Cooperation Out of Necessity und Cooperation Out of Choice: Vom kollektiven Differenzmanagement zum politischen Multilateralismus


Situative Kriseneindämmung und Differenzmanagement bleiben zwar unverzichtbare Spielarten des Multilateralismus, wachsende globale Problemlagen erfordern jedoch eine ebenso wachsende Bereitschaft, langfristig und substanziell mit ausgewählten Partnern zu kooperieren und dabei die innenpolitische Dimension multilateraler Zusammenarbeit beständig mit zu reflektieren. Vorsichtige Ansätze eines solchen, sowohl selektiven als auch partizipativ-politischen Multilateralismus zeigen sich im Weißbuch Multilateralismus. Die 2022 anstehende G7-Präsidentschaft bietet der nächsten Bundesregierung Gelegenheit, diese Ansätze weiter zu entfalten. 

Lars Brozus ist Senior Associate der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).



Unstimmigkeiten zwischen Staaten zu identifizieren, sie wo immer möglich einem Ausgleich zuzuführen und erfolgreich einzuhegen, ist traditionell eine zentrale Funktion, die dem Multilateralismus von den Protagonisten internationaler Politik zugeschrieben wird. Daher gehört miteinander zu kommunizieren, unterschiedliche wie auch gemeinsame Interessen und Präferenzen auszuloten und über Kompromissmöglichkeiten zu verhandeln, zu den zentralen Aufgaben des routinierten diplomatischen Staatenverkehrs.

Wichtige Arenen dafür sind die großen internationalen Organisationen, allen voran das UN-System mit einer Vielzahl von hochspezialisierten Einheiten, die unterschiedlichste Politikfelder adressieren. Versierten Akteuren gelingt es immer wieder, divergierende Positionen durch geschickte Verkopplung über Politikfelder und Institutionen hinweg in belastbaren Abmachungen zusammen zu führen. Das kollektive Management intergouvernementaler Differenzen bildet den Wesenszweck dieser ebenso praktischen wie pragmatischen Spielart des Multilateralismus.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Multilateralismus als Differenzmanagement sollte keinesfalls geringgeschätzt werden. Die großen zwischenstaatlichen Abkommen des letzten Jahrzehnts, die in so unterschiedlichen Politikfeldern wie Handel (zuletzt RCEP), Klima (Pariser Übereinkommen), Nachhaltigkeit (Agenda 2030) oder Sicherheit (JCPOA) getroffen werden konnten, sind auch Erträge dieser Form multilateraler Diplomatie.

Allerdings besteht das Risiko, dass sich diese Ausprägung des Multilateralismus in der Festschreibung des kleinsten gemeinsamen Nenners erschöpft, auf den sich Regierungen verständigen können. Angesichts der doppelten Herausforderung durch einerseits immer drängender zutage tretende globale Problemlagen und andererseits zunehmende Positionsdifferenzen in der Staatenwelt mit Blick auf deren Ursprung und Gehalt wie auch gangbare Bearbeitungsansätze für diese Problemlagen ist jedoch fraglich, ob und wie weit das Verständnis von Multilateralismus als Differenzmanagement zwischen souveränen Akteuren tragen kann. Im Sinne eines weiter zu denkenden Multilateralismus wird daher hier die Option eines politischen Multilateralismus diskutiert, der multisektorale Partizipation und vertiefte Kooperation fördert.

Was hat den Multilateralismus bloß so ruiniert?

Bekanntlich sieht sich die Menschheit im Anthropozän einer bedrohlich wachsenden Vielfalt globaler Herausforderungen gegenüber. Und auch, wenn die gern verwendete Losung „Globale Lösungen für globale Probleme“ unvermeidlich Anklänge von politischer Folklore evoziert, bleibt es ja richtig: ohne Zusammenarbeit werden sich die schwerwiegendsten Herausforderungen kaum bewältigen lassen.

Dieser Imperativ scheint den meisten Regierungen zwar durchaus bewusst zu sein, wenn man sich ihre Stellungnahmen in den zahllosen multilateralen Foren und Organisationen anschaut, die die internationale Politik der Gegenwart prägen. Daher ließe sich erwarten, dass multilaterale Kooperation nicht nur unumstrittene politische Handlungsnorm ist, sondern auch Handlungsrealität. Das Weißbuch Multilateralismus der Bundesregierung offenbart jedoch Zweifel an gleichsam automatisch mit den Herausforderungen wachsender Kooperationsbereitschaft. 

An mangelnden globalen Problemlagen kann es nicht liegen, dass die Bundesregierung sich über die schwindende Bereitschaft zu multilateralem Handeln besorgt zeigt und versucht, Gegenimpulse etwa durch die Allianz für den Multilateralismus zu setzen. Vielmehr konstatiert das Weißbuch, dass die innenpolitische und gesellschaftliche Unterstützung für multilaterales Handeln gerade angesichts sichtbar werdender globaler Herausforderungen nachgelassen habe – vielleicht nicht in Deutschland, aber doch bei einer Vielzahl wichtiger Partner.

Die Gründe dafür sind vielfältig; zwei stechen mit Blick auf den Vorschlag eines politischen Multilateralismus besonders hervor. Der erste greift die Frage auf, wem die Praxis des Multilateralismus als Differenzmanagement in den letzten Jahrzehnten primär genutzt hat. Die Befunde sind eindeutig: die Vorteile ökonomischer Liberalisierung sowie der Nutzbarmachung von territorial und virtuell definierten Räumen kommen vor allem den besser ausgebildeten, oft auch gut verdienenden und mobilen Funktionseliten zugute. Global gesehen profitierten zudem Teile der Mittelschichten in aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Brasilien, China und Indien in wirtschaftlicher Hinsicht. Hingegen erlitten die Mittelklassen in (West-) Europa und Nordamerika mindestens relative, oft auch absolute Wohlstandseinbußen.

Das hat materielle, aber auch kulturell-identitäre und politische Konsequenzen. Dazu zählt die steigende Attraktivität populistischer Politikangebote, die gespeist wird aus Vertrauensschwund in die liberale internationale Ordnung. Was wiederum die Differenzen zwischen den Trägerstaaten dieser Ordnung vergrößert und entsprechend das Differenzmanagement vor zusätzliche Herausforderungen stellt. Die Krise des Multilateralismus kann insofern als eine Art Kollateralschaden der Krise der liberalen Demokratie interpretiert werden.

Dem zweiten hier relevanten Faktor liegen hingegen enttäuschte Konvergenzerwartungen zugrunde. Das aus entwicklungspolitischer Perspektive notwendige Projekt der wirtschaftlichen Integration Chinas in den Weltmarkt hat in herrschaftspolitischer Hinsicht nicht die erwartete Rendite gebracht, nämlich einen Wandel der politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen hin zu mehr Offenheit und größeren Partizipationsmöglichkeiten von gesellschaftlichen Akteuren. Im Gegenteil festigt sich die Herrschaft der Machtelite in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Nach außen tritt Peking zusehends robust und durchsetzungsbereit in Erscheinung und formuliert selbstbewusst geopolitische Machtansprüche.

Ein Beispiel dafür ist die jüngst erfolgte Gründung der “Group of Friends in Defense of the Charter of the United Nations“. In dieser Gruppe organisieren sich neben China u.a. Russland, Iran, Nordkorea, Venezuela und Kuba. Programmatisch verteidigt sie den intergouvernementalen Charakter der UN als zwischenstaatliche Organisation und basiert auf der Vorstellung eines von souveränen Akteuren getragenen Multilateralismus. Das kann durchaus als Gegenentwurf zur Allianz für den Multilateralismus gelten und verdeutlicht einmal mehr die divergierenden Vorstellungen in der Staatenwelt darüber, wie die Bewältigung der globalen Herausforderungen erfolgen soll.

Vorschlag für einen politisch-partizipativen Multilateralismus der Zukunft

Natürlich ist Multilateralismus immer schon politisch, sowohl als praktische Form der internationalen Zusammenarbeit, aber auch als Konkurrenz von unterschiedlichen Kooperationsvorstellungen. Der folgende Vorschlag umreißt einen insofern bewusst politischen Multilateralismus, als dass dieser offen differenziert zwischen der Intensität und Reichweite von Kooperation mit verschiedenen staatlichen wie auch nichtstaatlichen Partnern. Das betrifft beispielsweise das Ausmaß der wirtschaftlichen Verflechtung mit liberaldemokratischen und illiberal-autoritären Partnern, aber auch unterschiedliche Grade der gesellschaftspolitischen Öffnung ihnen gegenüber.

Zwei Begriffe sollen dies verdeutlichen: cooperation out of necessity und cooperation out of choice. Cooperation out of necessity meint eine vergleichsweise schwach integrierte Variante internationaler Kooperation. Sie ist notwendig zur Bewältigung essentieller globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Biodiversitäts- und Umweltschutz (einschließlich globaler Güter wie Ozeane), Gesundheitsvorsorge und die Verhinderung nuklearer Proliferation und militärischer Auseinandersetzungen zwischen den Groß- und Supermächten. Wichtigstes Instrument hierfür bliebe die intergouvernementale Zusammenarbeit, ohne dass sachbezogene Kooperation mit nichtstaatlichen Akteuren ausgeschlossen wäre.

Cooperation out of choice würde demgegenüber eine sehr viel engere Zusammenarbeit von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren charakterisieren, die die Grundlage für vertiefte ökonomische und gesellschaftspolitische Kooperation bildet. Hier würde die weitreichende Integration von Produktions- und Lieferketten ebenso möglich wie die Verflechtung von Finanz-und Kapitalmärkten, aber auch größere Freizügigkeit im Personenverkehr. Kennzeichnend wäre zudem die institutionalisierte multisektorale Zusammenarbeit mit (organisierter) Wirtschaft und Gesellschaft.

Konsequent zu Ende gedacht bedeutet diese Form multilateraler Kooperation aber auch, dass Vorkehrungen gegen nationale Revisionstendenzen getroffen werden müssten. Zumindest bei zentralen Ankermächten dieses auf tiefe Verflechtung angelegten Multilateralismus müsste gewährleistet sein, dass die grundsätzliche Kooperationsoffenheit verstetigt wird. Sonst würde die nötige Investitionssicherheit fehlen, und zwar sowohl mit Blick auf ökonomische, aber auch politische, soziokulturelle und nicht zuletzt militärische Investments. Die innenpolitischen Voraussetzungen für cooperation out of choice sind also deutlich anspruchsvoller.

Die EU könnte in mancher Hinsicht als Vorbild für so eine Art multilaterale Vertrauensgemeinschaftdienen, etwa mit Blick auf Kernnormen, die sowohl im innerstaatlichen als auch im zwischenstaatlichen Verhalten von den jeweiligen Regierungen zu achten sind. Auf absehbare Zeit werden in Governance-Clubs wie den G7 auch nur ansatzweise ähnliche Überprüfungs- und Sanktionierungsmechanismen zwar kaum zu implementieren sein. Aber sie markieren die grundsätzliche Richtung, die ein politischer Multilateralismus konzeptionell einzuschlagen hätte.

Folgerungen für den Multilateralismus Deutschlands

Das Weißbuch drückt im Titel die Absicht der Bundesregierung aus, ihren Multilateralismus neu zu fokussieren: „Gemeinsam für die Menschen“ (Hervorhebung durch den Autor). Das erinnert an konzeptionelle Überlegungen in den USA, die unter der Überschrift “Foreign Policy for the Middle Classes“ erfolgen und eine konzeptionelle Richtschnur für die Biden-Administration sind. Demnach sollen die auswärtigen Beziehungen der USA künftig stärker darauf ausgerichtet werden, die Belange der amerikanischen Mittelklasse zu fördern – eine Reaktion auf die nachlassende innenpolitische Unterstützung für das internationale Engagement Washingtons. Die aktuellen G7- und G20-Vereinbarungen über die Mindestbesteuerung global tätiger Konzerne werden als konkreter Ausdruck dieses Politikwandels interpretiert.

Auch die Bundesregierung scheint prinzipiell offen für einen politischen Multilateralismus, der selektiv-partizipative Akzente setzt. Im Ausblicksteil des Weißbuchs heißt es sinngemäß, dass das entscheidende Kriterium zur Weiterentwicklung der multilateralen Ordnung in größerer Effektivität bei gleichzeitiger Vereinbarkeit mit Frieden, Menschenrechten, Demokratie und Nachhaltigkeit besteht. Gleichsam als Kerngruppe dieses aktiven und effektiven Multilateralismus werden die EU, USA und NATO genannt. Allerdings wecken die innenpolitischen Entwicklungen in manchen Mitgliedstaaten Zweifel daran, dass sie verlässliche Partner im Sinne des oben vorgeschlagenen politischen Multilateralismus sein könnten. Das gilt vor allem für die Türkei, Sorgen bereiten aber auch Polen und Ungarn. Möglicherweise sind die Voraussetzungen für cooperation out of choice unter den G7-Mitgliedern eher gegeben. Die deutsche G7-Präsidentschaft bietet der nächsten Bundesregierung 2022 die Chance, entsprechend initiativ zu werden.

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