„Inklusiv und effektiv oder exklusiv und demokratisch?“

Versuch einer Reflexion der deutschen Multilateralismus-Debatte


 Die Debatte anlässlich der bevorstehenden Veröffentlichung eines „Weißbuches Multilateralismus“ der Bundesregierung zeigt in der Pluralität ihrer Beiträge einige der Schwierigkeiten und scheinbar notwendigen Abwägungen für auf Stärkung der multilateralen Ordnung abzielende deutsche Außenpolitik auf – nicht zuletzt in dem sich abzeichnenden Gegensatz zwischen einem „exklusiven“ und einem „inklusiven“ Multilateralismus und dessen jeweiligen Verhältnis zu demokratischen Werten. 



Bundesregierung und Auswärtiges Amt treten international nicht erst seit der Gründung der „Allianz für den Multilateralismus“ Ende 2019 gemeinsam mit Frankreich als prominente Fürsprecher des Multilateralismus auf – gelegentlich sogar in Abgrenzung von auf Alleingängen beharrenden Partnern beiderseits des Atlantiks. Als Grundsatzdokument und (eher) theoretisierendes Gegenstück der politik-praktischen „Allianz“ soll nun ein „Weißbuch Multilateralismus“ erscheinen. Es hat den Anspruch sowohl das deutsche Verständnis des Multilateralismus als „Gesamtansatz“ (Annen) der deutschen Außenpolitik beleuchten als auch konkrete Ansatzpunkte für multilaterales Handeln – gerade im Rahmen der „Allianz“ – bieten. Anlässlich der bevorstehenden Veröffentlichung dieses Weißbuches entwickelte sich unter der Schirmherrschaft des Auswärtigen Amtes eine Debatte zwischen deutschen, europäischen und internationalen Expert:innen über die Zukunftsaussichten des Multilateralismus im Allgemeinen und die nötigen Schwerpunktsetzungen des Weißbuches für einen „deutschen“ Multilateralismus im Besonderen. 

In seinem abschließenden Beitrag bemüht sich Sebastian Groth – als Leiter des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes federführend an der Erstellung des Weißbuches beteiligt – um ein konsensuales Fazit der Debatte. Er identifiziert als Ergebnis zwei ineinander verschränkte, durch die „überwiegende Mehrzahl“ der Beiträge bestätigte und auch dem Weißbuch selbst zugrundeliegende Annahmen: das multilaterale System als „Grundbedingung für Frieden, Sicherheit, Wohlstand und wirtschaftlichem Erfolg“ in Deutschland und (bezeichnenderweise) „vielen“ anderen Teilen der Welt einerseits, sowie andererseits eine Sicht auf den Multilateralismus, in der dieser gerade in seinen scheinbaren Krisen „herausgefordert wie selten zuvor“ aber zugleich auch „notwendig wie selten zuvor“ erscheint. Obwohl diese Zusammenfassung und die Postulierung einer rundweg positiven Einschätzung des Multilateralismus sicher dem Grundtenor der Debatte gerecht werden, so überspielt der Beitrag doch sowohl die explizit gewünschte und auch tatsächlich eingetretene Pluralität der Beiträge als auch das in diesen deutlich werdende, grundlegendere Problem der Unklarheit über den im Zentrum stehenden Begriff selbst. Bemerkenswert ist, dass Groth in seinem Schlusswort – vielleicht auch angesichts von Umfragen, die große Unsicherheiten in der Bevölkerung über diesen Begriff nahelegen (Körber-Stiftung) – auch nicht von „dem“ Multilateralismus spricht, sondern von für weniger multilateral sensibilisierten Leser:innen ungleich einfacher vorstellbaren „multilateralen Regeln und Institutionen“, „multilateraler Abstimmung und Kooperation“ und dem „Multilateralen System“. Denn was genau der Kern des „notwendigen“ Multilateralismus, der außenpolitischen „Lebensversicherung“ (Maas) Deutschlands ist, bleibt auch nach der dem Weißbuch vorrausgegangenen Debatte offen.  


 Parallel zu konkreten Vorschlägen und Anregungen der Autor:innen für unterschiedliche im „Weißbuch“ vorzunehmende regionale Schwerpunksetzungen, Policy-Initiativen und zu präferierenden Foren und Mitteln multilateralen Handelns zeichnet sich auf einer anderen Ebene gleichzeitig eine grundsätzlichere Uneinigkeit hinsichtlich gegenläufiger Lesarten des Multilateralismus und entgegengesetzter Zielrichtungen seiner zukünftigen Entwicklung ab. Einen Kristallisationspunkt dieser Spannungen stellt der Umgang der „Multilateralisten“ mit potentiellen nicht-demokratischen Partnern oder, in anderen Worten, das Verhältnis zwischen Multilateralismus und Demokratie als zwei zentralen Grundpfeilern und -werten deutscher Außenpolitik dar – als Shibboleth dient dabei oft die Frage nach dem Grad der möglichen und nötigen Zusammenarbeit mit China.

Vertreter eines exklusiven Multilateralismus sehen realistische Chancen für eine vertrauensbasierte Kooperation in Erwartung diffuser Reziprozität nur in der Zusammenarbeit mit demokratischen Partnern. Als Pfeiler einer langfristig-nachhaltigen multilateralen Weltordnung kommen nur diejenigen Akteure in Frage, die nicht nur ein Grundverständnis des Multilateralismus als wertegeleiteter Kooperationsform teilen, sondern auch konkret mit den demokratisch-pluralistisch-liberalen Grundpfeilern deutscher Außenpolitik kompatible Werte vertreten. Ein solcher „limited membership multilateralism“ (Narlikar) basierend auf geteilten Werten umgehe die Gefahr, sich in einer noch immer zunehmend vernetzten Welt einer „weaponized interdependence“ auszusetzen: Vertrauen in Partnernationen, wirtschaftliche Verbindungen nicht für „geostrategische Zwecke“ zu missbrauchen stellt hier die Grundbedingung für eine Aufnahme in einen Club der „idealen Wertepartner“ (Maas) dar. Kurzum: „Multilateralism needs Democracy“ (Benner).

Nicht zuletzt verweisen mit Gotkowska und Tocci zwei der Autor:innen auf die angesichts des grundsätzlichen Tons der Debatte durchaus unbequeme Sichtweise, dass der Multilateralismus – zumindest in seinen durch die Bundesregierung vornehmlich vertretenen Formen – in bestimmten Fällen nicht nur nicht die geeignetste Herangehensweise, sondern – entgegen der weitaus häufiger genannten Sicht – keinesfalls immer eine intrinsisch wertvolle Kooperationsform gerade mit autoritär regierten Staaten darstellt: „pushing for multilateral solutions in security and defence vis-à-vis Russia has become counterproductive.“ (Gotkowska). Multilateralismus kann also nicht nur mit Blick auf seine Mitgliedschaft, sondern auch auf seine Reichweite als exklusiv verstanden werden: nicht jedes Problem lässt sich multilateral lösen.

Den „Exklusiven“ gegenüber stehen diejenigen, die in genau jener normativen Überladung des Multilateralismus eine der Ursachen der gegenwärtigen Krise multilateraler Ordnung sehen. Sie plädieren anstelle rigider Grenzziehung für mehr Flexibilität und einen problem- und ergebnisorientierten, inklusiven Multilateralismus. Ohne dabei an diesen die gleichen normativen und identitären Ansprüche zu stellen wie ihre Gegenüber sehen sie Chancen in der Überwindung der Beschränkung auf nicht mehr zeitgemäßer Formen multilateraler Institutionen wie etwa der UN und einen kleinen Kreis „ernstzunehmender Demokratien“ (Albright). In geteilten Interessen statt geteilten Werten liege hier auch die Chance, schwierige Beziehungen zu verbessern: „work towards a common climate agenda“ biete auch eine „opportunity to build bridges […] considering the increase in climate-related ambition in China“ (Bausch). Derartige Hoffnungen beschränken sich nicht darauf, konkreten grenzübergreifenden Herausforderungen wie Klimawandel oder COVID-19-Pandemie effektiver begegnen zu können, sondern durch mehr Output-Legitimität soll auch verlorenes Vertrauen in das multilaterale System – gerade unter den Bevölkerungen demokratischer Staaten – wieder gutgemacht werden. „Für einen Multilateralismus, der liefert“ (Scheler) sollte sich Deutschland „neuen Formen des Multilateralismus wie Freundesgruppen, Kontaktgruppen und Koalitionen der Willigen stärker öffnen“ (Masala) und dabei ganz pragmatisch nicht aus den Augen verlieren, dass Multilateralismus ein „Mittel zum Zweck, keinen Zweck an sich“ (TocciWelsh) darstellt.


Die Schwierigkeit sich hier auf einen einheitlichen Kurs deutscher Außenpolitik festzulegen und in dieser Frage eindeutig zu positionieren kommt auch sprachlich zum Ausdruck: Auf Mehrdeutigkeiten im Wechselspiel zwischen „Allianz“, „Club“ und „Netzwerk“ verweist etwa Ulrich Lechte, wenn er fordert, „Verwirrungen um die Allianz für den Multilateralismus aufzulösen“, die bei der einen Gelegenheit als „Allianz von liberalen Demokratien“ und bei der anderen als „informelles Netzwerk“ dargestellt würde – indem etwa ein geplantes „Netzwerk der Demokratien“ unter der Führung Joe Bidens „gut zu unserer ‘Allianz für den Multilateralismus’ passt“ (Maas).  Der schwierige Balanceakt der Grenzziehung  zwischen Gegner und Partner zeigt sich auch, wenn Maas davon spricht, „immer dann, wenn Russland, China oder andere Länder unsere Sicherheit und unseren Wohlstand, die Demokratie, die Menschenrechte und das Völkerrecht bedrohen, dem entgegentreten“, gleichzeitig aber auch einer kompletten Abkoppelung („decoupeling“) vor dem Hintergrund geteilter grenzüberschreitender Herausforderungen eine Absage erteilt und erklärt, dass „Diplomatie bedeutet, sich auch mit schwierigen Akteuren auseinanderzusetzen.“ Ebenso deutlich wird diese Gratwanderung in der Ankündigung Merkels, zu „versuchen, mit dem, was wir […] an Erfahrungen im Multilateralismus haben, auch ein Land wie China einzubeziehen und zumindest gleichwertig zu behandeln.“


Keinesfalls symmetrisch verteilt auf die beiden Seiten dieser Debatte zeigt sich zudem eine weitere Auseinandersetzung um die nötige Inklusivität eines zukünftigen Multilateralismus: nicht darum, mit welchen Staaten zusammengearbeitet werden sollte, sondern um die grundsätzlichere Frage, ob Staaten überhaupt weiterhin die zentralen oder gar einzigen Akteure einer multilateralen Ordnung bilden können.  Wiederholte Forderungen etwa nach einem „inclusive, networked multilateralism“ (UN-Generalsekretär Gutteres) oder einem „project-based multilateralism […] inclusive to non-state actors“ in Kontrast zu einem „state-based old multilateralism“ (Kortunov) sind Ausdruck der Hoffnung, durch ein stärkeres Einbinden von zivilgesellschaftlicher Initiativen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen einen „Aufbau von Koalitionen jenseits der Staatszentrierten Welt“ (Dingwerth) zu ermöglichen. Unbeeindruckt von festgefahrenen Diskussionen in den etablierten Foren des „staatszentrierten“ Multilateralismus sollen diese – oft auf einem Multi-Stakeholder-Ansatz basierenden – Initiativen effektiveres und problemorientierteres multilaterales Handeln ermöglichen. Dabei verlaufen beide Debatten über die In/Exklusivität des Multilateralismus keinesfalls parallel. Notwendigerweise fallen die Hürden für eine Zusammenarbeit in mit Blick auf beide Dimensionen maximal inklusiv gestalteten Spielarten des Multilateralismus geringer aus – in einem “project-based multilateralism” (Kortunov) etwa gelten geteilte Werte nunmehr als ein Ziel, keine Voraussetzungen gemeinsamen multilateralen Handelns. Somit erhält die Entscheidung, ob und welche nichtstaatlichen Akteure in neue und etablierte multilaterale Formate aufgenommen werden sollen Bedeutung über die Frage nach Effektivitätssteigerungen hinaus. Denn eine „Demokratisierung“ des Multilateralismus durch größere Beteiligung von Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft kann durchaus zu einer „Entdemokratisierung“ führen – in dem Sinne, dass unter den entscheidenden Partnern nun nicht mehr ein kleiner Kreis (überwiegend) demokratischer Staaten verstanden wird, sondern ein ungleich größerer Zirkel an auch in ihrer Haltung zu demokratischen Werten diverseren staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren.


Umso mehr wird deutlich, wie wichtig es ist, nicht nur „den“ Multilateralismus durch eine Voranstellung von wohlklingenden, aktuellem Zeitgeist oder akuten Herausforderungen entsprechenden Adjektiven in eine bestimmte Richtung zu drängen und als „Multilateralismus + X“ neu zu erfinden, sondern sich darüber im Klaren zu werden, was denn eigentlich im jeweiligen Kontext unter dem Begriff „Multilateralismus“ selbst verstanden wird. Die hier skizzierte Unterscheidung zwischen „inklusiven“ und „exklusiven“ Multilateralisten stellt dabei keineswegs eine abschließende Lesart der Debatte rund um das „Weißbuch Multilateralismus“ dar, aber sie zeigt doch gerade einige Wege auf, wie Multilateralismus eben nicht gedacht werden kann – bei all der inklusiven Verständigungsleistung, die der Multilateralismus zu leisten imstande ist und wegen der er zurecht von vielen Seiten gefördert und gefordert wird, kann er selbst als Konzept doch nicht allumfassend inklusiv sein und gegensätzliche Forderungen nach demokratischer Wagenburg einerseits und pragmatisch-offener Tür andererseits in sich vereinen.


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„Suchbewegungen” – Multilateralismus weiter denken zwischen Politik und Wissenschaft