„Suchbewegungen” – Multilateralismus weiter denken zwischen Politik und Wissenschaft


Die gemeinsame Suche nach neuen Möglichkeiten multilateraler Zusammenarbeit sieht sowohl die Politik als auch die Politikwissenschaft vor die gleiche Herausforderung gestellt: Einer Reduktion weltpolitischer Komplexität, die weiterhin Übersicht und damit politisches Gestaltungspotential ermöglicht. Ein zentrales wissenschaftliches Hilfsmittel in diesem Dialog ist die Analyse der etablierten logischen, kulturellen und sprachlichen Denkvoraussetzungen des Multilateralismus und die damit verbundene Frage inwiefern diese dessen Weiterdenken behindern.



Die unlängst etablierte Diagnose einer aus den Fugen geratenen Welt bezieht nun auch den Multilateralismus, als ein zentrales Ordnungsphänomen der Weltpolitik, explizit mit ein. Wahlweise als Endspiel oder als Chance begriffen, läuft ein gewichtiger Teil der Bemühungen um dessen Bestandserhaltung über einen in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit 2014 nachgerade als ‚Genre‘ etablierten Review-cum-Weißbuch Prozess. Die Bundesregierung gibt sich hierbei erneut als „angewiesen auf die vielen ausgewiesenen nationalen wie internationalen Expertinnen und Experten“ (Annen), um der Frage nachzugehen, wie der Multilateralismus weiterentwickelt und somit weiterhin als ordnungsstiftende Praxis gedacht werden kann (Merkel).

In aller Regel werden die gewünschten, gemeinsamen Anstrengungen von Politik und Wissenschaft entlang der Schnittstelle von Theorie und Praxis beobachtet. Es stellt sich die Frage, was eine Politikwissenschaft als Sozialwissenschaft an produktiven Einsichten zu der genannten Suchbewegung beitragen kann. Glücklicherweise weiß man inzwischen, dass die Unterscheidung von Theorie und Praxis nicht mehr als exklusive Trennlinie von Wissenschaft und Politik gedacht werden muss. 

Nicht nur ist es einschlägig, dass zahllose historische Ideen über Theorie in die politische Praxis eingeführt wurden: Ob Fragen der Souveränitätsproblematik (Bodin), der vertragstheoretischen Grundlegung des politischen Gemeinwesens (Rousseau), oder der Funktion des Staats (Hobbes) – all diese Ansätze lieferten, wenn schon nicht eine exakte Blaupause für den Aufbau politischer Strukturen, so aber dennoch ein Vokabular, mit dem diese beschrieben und somit rationalisiert werden konnten.

Zuletzt war es gerade die politische Einsicht und Mahnung, sich „nicht der Versuchung hin[zu]geben, schwarz-weiß zu zeichnen, wo die Graustufen des Ungewissen vorherrschen, oder wo in derselben Wirklichkeit konkurrierende Wahrheiten Platz haben“ (Steinmeier), die eindeutig herausstellte, dass Außenpolitik und Wissenschaft ein gemeinsames Bezugsproblem teilen: die Komplexität der modernen Welt(politik) und die Herausforderung eines adäquaten Umgangs damit.

Komplexität bezeichnet hier den Umstand, dass sich in der Welt(politik) stets mehr Beobachtungsmöglichkeiten anbieten, als berücksichtigt und realisiert werden können. Komplexität muss also sozusagen reduziert werden, damit man überhaupt ein Lagebild erhält, auf dessen Basis sich ein weiteres Tun abwägen lässt. Aufgrund individueller und organisatorischer Verarbeitungsgrenzen folgt die Beobachtung von Außenpolitik daher in beiden Feldern stets einem spezifischen Selektionsmuster, das einige Aspekte erfasst und andere unberücksichtigt lassen muss.

Zumindest an dieser Stelle werden Politik und Wissenschaft also aus ihrer vermeintlichen Opposition herausgelöst: Beide vollziehen praktisch den Umgang mit Komplexität, indem sie theoretisch eine möglichst produktive Beobachtungsperspektive auf den von Intransparenz ‚kontaminierten‘ Phänomenbereich der Außenpolitik entwerfen. Theorie und Praxis fallen also unter diesen Umständen nicht nur sozusagen ‚in eins‘ – das gemeinsame Bezugsproblem ermöglicht es vielmehr, dass Politik und Wissenschaft an- und miteinander lernen. Was die wissenschaftliche Beobachtung von Außenpolitik ihrem Gegenüber hierbei vor allem aufzeigen kann, sind latente Selbstbeschränkungen.

Im Sinne des besagten Verhältnisses von weltpolitischer Komplexität und deren notwendiger Reduktion zeigen sich diese latenten Selbstbeschränkungen in Form von unreflektiert mitgeführten Prämissen oder „falschen Voraussetzungen“ (Steinmeier). Diese stehen an Schlüsselstellen des Beobachtungsprozesses, reduzieren dort Komplexität auf ein unergiebiges Niveau und verhindern so wiederum, dass ein größeres Maß an weltpolitischer Komplexität eingefangen werden kann. Aufgrund ihrer logischen, inhaltlichen oder anderer blinder Flecken blockieren diese Prämissen somit die produktive Beobachtung (hier: multilateraler) Außenpolitik in ihren vielen Dimensionen. 

Einer Reflexion darauf, wie Multilateralismus weiter entwickelt und heute noch gedacht werden kann, muss es also gerade darum gehen, solche Prämissen aufzuspüren, zu ersetzen oder so umzubauen, dass sie der Beobachtung auch tatsächlich neue Möglichkeitsräume politischer Gestaltung eröffnen. Es geht somit nicht nur um die Beantwortung offensichtlicher Fragen, sondern stets auch um das Hinterfragen des vermeintlich Offensichtlichen.

Ein äußerst ergiebiges, weil erprobtes Werkzeug, das die Wissenschaft diesem Reflexionsprozess zur Verfügung stellen kann läuft unter dem für die Außenpolitik, im ersten Zugriff, sicherlich sperrigen Begriffspaar von ‚Sozialstruktur und Semantik‘. Die Irritation sollte aber nicht lange anhalten. Zumal die vorangehenden Zeilen bereits einen ersten Hinweis auf das sich dahinter verbergenden Korrelationsverhältnis beinhalteten. 

Der Rückgriff auf die Tradition Politischer Theorie – oben vertreten durch Namen wie Bodin, Rousseau oder Hobbes – verweist den sozialwissenschaftlich orientierten Blick schnell auf die zentrale Einsicht des Begriffspaars von ‚Sozialstruktur und Semantik‘: Es besteht offenbar eine Verhältnis zwischen sich entwickelnden gesellschaftlichen Organisationsstrukturen (‚Sozialstruktur‘) und deren sinnstiftenden Beschreibungen (‚Semantik‘). Beispielhaft: Wo mittelalterliche Herrschaftsstrukturen sich ändern (‚Sozialstruktur‘), braucht es ein ausformuliertes Verständnis von Souveränität (‚Semantik‘).

Bereits hier klingen erste Ähnlichkeiten zu den aktuellen Suchbewegungen rund um den Multilateralismus an: Globale Ordnungsstrukturen sind in Bewegung geraten (‚Sozialstruktur‘); um diese beschreiben zu können braucht es ein ausformuliertes Verständnis weltpolitischer Ordnung (‚Semantik‘). Gesellschaftliche und damit auch politische Probleme werden also immer in einem Zusammenspiel der Veränderung sozialer Strukturen und deren sinnstiftenden Beschreibung bearbeitet.

All dies ist sicherlich intuitiv einsichtig. In Verbindung mit dem ebenfalls bereits gennannten geteilten Bezugsproblem von Politik und Wissenschaft lässt sich auch schnell die Arena umreißen, in der sich beide über die gegenwärtigen Herausforderungen und das Weiterdenken des Multilateralismus austauschen können: Die gestiegene Komplexität weltgesellschaftlicher und -politischer Ordnungsmöglichkeiten hat derart expandiert, dass deren konkrete Umsetzung (‚Sozialstruktur‘) und sinnstiftende Beschreibbarkeit (‚Semantik‘) nicht mehr als ein ‚Deckungsverhältnis‘ gedacht werden können. Mit einer Vielzahl von Ordnungsentwürfen geht eine ebensolche Anzahl von divergierenden sinnstiftenden Beschreibungen einher, die sich nicht mehr in der einen Semantik zusammenführen lassen.

So hat man es bereits in Bezug auf das klassische Verständnis von Gesellschaft erlebt – dass die gestiegene Zahl möglicher Lebensentwürfe (‚Komplexität‘) eine Vielzahl heterogener Milieus entstehen lässt (‚Sozialstruktur‘), die wiederum zahllose Vokabulare und/oder Selbstbeschreibungen generieren (‚Semantik‘), die nicht mehr in der einen geteilten Beschreibung konvergieren. Und genau so lässt, in Bezug auf die weltgesellschaftliche und -politische Organisation, die gestiegene Zahl denkbarer politischer Ordnungsentwürfe (‚Komplexität‘), eine Vielzahl heterogener Regime und Akteure entstehen (‚Sozialstruktur‘), die wiederum ebenfalls zahllose Vokabulare und/oder Selbstbeschreibungen generieren (‚Semantik‘), die niemals zur Deckung gebracht werden können.

Semantik und Sozialstruktur sind also nicht direkt miteinander verkoppelt, sondern eher ‚locker‘ miteinander über die ‚Variable‘ der Komplexität korreliert: Je mehr Ordnungsmöglichkeiten denkbar sind (‚Komplexität‘), desto mehr Varianten werden umgesetzt (‚Sozialstrukturen‘), desto mehr Vokabulare entstehen, die diese sinn- und orientierungsstiftend beschreiben (‚Semantiken‘). 

In der so umrissenen Gesprächsarena werden dann in der Folge auch die möglichen latenten Selbstbeschränkungen klarer, die ein zentrales Thema stellen über das sich Politik und Wissenschaft austauschen können: Den Versuchen weltpolitische Ordnung auf eine bestimmte (hier: multilaterale) Weise zu gestalten (‚Sozialstruktur‘) muss es darum gehen, eine Form der Beschreibung zu finden (‚Semantik‘), die diese Pluralität und Heterogenität der semantischen und sozialstrukturellen Entwürfe anerkennt und nicht hofft dies in irgendeiner Weise rückgängig machen zu können.

Noch konkreter bezogen auf die Herausforderung den Multilateralismus weiterzudenken, zeigen sich die möglichen Selbstbeschränkungen einer derartigen Suchbewegung etwa im Begriff des 'contested multilateralism“ (Keohane/Morse). Es geht nicht mehr nur darum eine Vielzahl heterogener Beschreibungen ebenso heterogener Organisationsformen zu überblicken. Es geht vielmehr gleichzeitig auch darum, mit den zahllosen heterogenen Beschreibungen einer spezifischen, einst eine einheitliche Ordnung stiftenden Organisationforum des Multilateralismus de facto in dem Sinne zu rechnen, dass diese sich offensichtlich nicht mehr auf einen absolut deckungsgleichen, quasi-archimedischen Punkt einer geteilten bzw. einheitlichen Sinnstiftung zurückführen lassen werden. 

Die allgemein bekannten „imagined communities“ des Historikers Benedict Anderson existierten schon immer im Plural, konnten sich aber selbst im Angesicht ihrer Vielheit noch zumindest im Konzept der ‚Nation‘ ihrer Einheitlichkeit rückversichern. Und auch die Welt der Blockstaaten entfaltete sich zwar vor dem Hintergrund einer eindeutigen Systemkonkurrenz, konnte sich aber als ein bipolares Weltsystem als eine globale Einheit dieser beiden Seiten verstehen. Dass diese Einheit(en) so schon lange nicht mehr zu haben sind, sehen wir bereits auf der Ebene dieser ‚nationalen Gesellschaften‘. So wie dort inzwischen (Selbst-)Beschreibungen der postkapitalistischen, postindustriellen oder postmodernen Gesellschaft gefertigt werden, so finden sich auf weltgesellschaftlicher Ebene inzwischen analog Beschreibungen der postwestfälischen, poststaatlichen, postnationalen Ordnung.

Gemeinsam ist all diesen Beschreibungen, dass das Präfix des ‚post‘ keine wirkliche Problemlösung, sondern stattdessen eher einen Problemanzeiger darstellt: All diese Schlagwörter leiten sinn- und ordnungsstiftende Semantiken an, die eher Übergangsbeschreibung sind. Verlegenheitsformeln, die Begrifflichkeiten einer Ordnungssemantik nutzen, die unlängst im Vergehen begriffen ist und deren Nachfolgestrukturen aber noch nicht passend und damit orientierungsstiftend beschrieben werden können.

Wollen Politik und Wissenschaft sich also über die besagten unreflektiert mitgeführten Prämissen, die blinden Flecken der eigenen Beobachtung multilateraler Formen der Ordnungsbildung austauschen, so stehen sie vor der nachgerade paradox anmutenden Aufgabe der Suche nach einer zwar nicht mehr einheitsstiftenden, aber dennoch einheitlichenForm der Weltordnung und -beschreibung, die gleichzeitig mit deren Verschiedenheit rechnen kann.

Für die Politik geht es somit nicht mehr nur darum, eine politische Mentalität durchzuhalten – also einen diffusen, sich ‚gut‘ und ‚richtig‘ anfühlenden ‚catch-all‘ Multilateralismus-Begriff –  oder wissenschaftliche Politische Theorie, sondern gerade ihre eigene politische Theorie des Multilateralismus zu überprüfen. Denn die besagten Semantiken der Selbstbeschreibung politischer Akteure sind genau jenes Einfalltor, an und über die diese (oft unterbewussten) Theorien nichtsdestotrotz Wirksamkeit entfalten. Außenpolitik ist also gefragt, „die Beteiligung an der Erzeugung der Wirklichkeit, die für sie zum Problem wird“ (Luhmann) mitzudenken.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund die gegenwärtige Semantik der politischen Theorie und die Sozialstrukturen, die sie offenbar zu beschreiben versuchen, dann erscheinen diese dem sozialwissenschaftlich informierten Politikwissenschaftler als Ausdruck des sprichwörtlichen Kampfs gegen Windmühlen. 

So spiegelt sich, als ein sehr plastisches Beispiel, in der in aller Regel unreflektiert als eng und quasi-natürlich mitgedachten Verbindung von ‚Multilateralismus und Demokratie‘ ein abgeschlossenes und auf die unbedingte Herstellung von Welt-Einheitlichkeit fixiertes Denken, das sich im Angesicht der offenbaren sowie hier auch nochmal ein- und nachdrücklich beschriebenen weltgesellschaftlichen Veränderungen nicht mehr durchhalten lässt. Dies bedeutet nicht, dass man politische Ideale wie eben das der Demokratie aufgeben sollte. Aber drängt nicht gerade deren Grundidee dazu, den Befund, dass alles was einst eine Regel war nun eine Verhandlung ist umso ernster zu nehmen?

Diese Einsicht motiviert das politische Denken offenbar dazu von einem allzu normativen Erwartungsstil („So war es immer, so soll es sein es immer bleiben.“), auf einen eher kognitiven Erwartungsstil umstellen, der davon ausgeht, dass sich Ideen stets in einer sich ebenso beständig ändernden Umwelt bewähren müssen; was diese selbst zudem nicht unverändert zurück lässt. Nur wenn man sich auf dieses prozessuale Denken einlässt – dies legt der aktuelle Stand sozialwissenschaftlicher Forschung nahe – kann es gelingen Gestaltungspotential aufzubauen und zu entfalten. Man kann Alternativen und Gegenentwürfe nicht apriori ablehnen, sondern muss sich auf diese einlassen, um auf sie umfassender reagieren zu können. In diese Richtungen gehen Ideen wie die, „auch ein Land wie China einzubeziehen und zumindest gleichwertig zu behandeln“ (Merkel). Kurz gesagt: Nur wer Kontrolle zulässt, kann selbst auch Kontrolle erlangen!

Gerade das Beispiel eines – wie auch immer genau zu denkenden – ‚demokratischen Multilateralismus‘ kann dann dazu führen, dass man diese politischen Ideen auf neue Weise mit Leben füllt. Nämlich Demokratie wieder gerade als ein offenes ‚Experiment‘ (Whitman) zu sehen und im nicht mehr umkehrbare ‚babylonischen Sprachengewirr‘ multilateraler Ordnungsversuche für Übersetzungsleistungen zu sorgen. 

Das bedeutet nicht, dass man alternative Semantiken nicht als „trojanisches Pferd“ (Wientzek/Enskat) im Sinne von Einfluss auf bzw. die Kontrolle von multilateralen Strukturen verstehen kann. Wohl aber auch, dass man – wie oben dargelegt – auf diese Kontrollversuche reagieren kann. Dann kann beispielsweise unschlüssig anmutenden Selbstbeschreibungen autoritärer Staaten als „Champions des Multilateralismus“ oder Vorwürfen eines „selektiven Multilateralismus“ eine eigene Umschrift entgegen gesetzt werden. Aber eine Umschrift, die diese eher als ein Angebot im Sinne des klassischen Verfahrens eines „gewinnfreien Werbens“ (Czempiel) selbstbewusst verfolgt und damit einen Dialog- sowie damit möglicherweise verbundenen Vertrauensbildungsprozess anstößt. Auf diese Weise wird Multilateralismus dann nachgerade zu einem Werkzeug des ‚demokratischen Experiments‘.

In diesem Punkt spiegelt sich dann nicht nur die historische Erfahrung der „sogenannten ‚vertrauensbildenden Maßnahmen‘, die im Kontext von sich verschlechternden Ost-West-Beziehungen in den 1970er Jahren zunächst als ein Instrument zur Sicherung gefährdeter Rüstungskontrollabkommen ‚erfunden‘ wurden, aber im Nachhinein schon deshalb auch zweckorientiert weiterentwickelt wurden, weil sich Vertrauensbildung eben nicht nur als Mittel der Friedenssicherung, sondern als bereits de facto praktizierte Friedenssicherung entpuppte“ (Hellmann), sondern auch, dass nicht alles Erfahrungswissen immer vollständig überkommen sein muss, dennoch aber stets über die Reflektion von dessen semantischen, also politisch-theoretischen Hintergrund und dessen Anpassung an den jeweiligen Kontext lebendig gehalten werden muss.


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