Ist Multilateralismus ein Erfolg?


Angesichts einer Vielzahl von internationalen Herausforderungen und Großmachtkonflikten häufen sich einmal mehr Narrative eines Multilateralismus in der Krise. Aber was ist mit den unbestreitbaren Erfolgen des multilateralen Systems seit 1945, fragt Stéphane Dion, Botschafter Kanadas in Berlin? Und was können Länder wie Kanada und Deutschland tun, um weiter dazu beizutragen, globale Herausforderungen zu bewältigen und den menschlichen Fortschritt voranzutreiben?



Bevor wir die Vergangenheit und die Zukunft des Multilateralismus untersuchen, beginnen wir, wenn Sie alle einverstanden sind, mit einer Definition, um sicherzustellen, dass wir über dieselbe Sache sprechen, wenn es um Multilateralismus geht. Multilateralismus bedeutet Zusammenarbeit zwischen Staaten in Einklang mit internationalen Standards. Dies ist die Definition, die ich vorschlage. Die Standards können entweder einen regionalen oder einen globalen Geltungsbereich haben. Sie sind in juristischen Dokumenten (Chartas, Vereinbarungen, Verträge usw.) kodifiziert und durch ein weites Netz an internationalen Organisationen, mit den Vereinten Nationen im Zentrum, institutionalisiert. 

Multilateralismus existiert, weil es keine Weltregierung gibt. Wir werden niemals aufgerufen werden, eine Weltregierung zu wählen, das wird sicherlich niemals passieren, zumindest nicht in den nächsten Generationen. In Abwesenheit einer Weltregierung versucht Multilateralismus, wie er sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, dem Gesetz des Dschungels zwischen souveränen Staaten zuvorzukommen und die friedvolle Zusammenarbeit für gemeinsame Ziele zu stärken. 

Ich würde sagen, dass Multilateralismus zwangsläufig ein schwieriges System ist, da es versucht, in einem System, das fundamental auf die Souveränität der Staaten aufgebaut ist, Konformität mit internationalen Standards herzustellen. In unterschiedlichem Maß, haben Staaten immer dazu geneigt, die internationalen Regeln zu befolgen, die ihnen nützen, während sie die, die ihnen nicht gefallen, ignoriert oder verbogen haben. In einer Welt, die fundamental von der Souveränität der Staaten regiert wird, wird Multilateralismus ein System bleiben, dass nicht für selbstverständlich erachtet werden kann, das ständiger Aufmerksamkeit bedarf. 

Diese Instabilität, die Multilateralismus zu eigen ist, erklärt, warum man oft den Eindruck hat, dass Multilateralismus rückläufig ist. In jeder Epoche haben wir gehört, dass Multilateralismus weniger erfolgreich ist, als in der Vergangenheit. Es ist wie im Bereich der Bildung. Ich bin Dozent von Beruf und habe immer gehört oder gelesen, dass viele, die unterrichten, behaupten, dass das Niveau ihrer Studenten kontinuierlich fällt – aber dann wundert man sich, wie es unsere Gesellschaften geschafft haben, Analphabetismus zu reduzieren und wissenschaftliches und technologisches Wissen voranzubringen! 

Wenn beim nächsten Mal ein Politiker oder Diplomat sagt, dass Multilateralismus rückläufig ist, oder noch bestimmter, dass „die Welt noch nie so unsicher war“, könnten wir vielleicht vorschlagen, dass sie mehr Respekt für die Ernsthaftigkeit der Probleme zeigen sollten, die ihre Vorgänger überwinden mussten. Tatsache ist, dass es niemals ein goldenes Zeitalter gab, in dem Multilateralismus keinen Herausforderungen gegenübergestellt war. Eine Sache ist sicher: der institutionelle Apparat des Multilateralismus entwickelt sich beständig weiter. Jedes Jahr werden neue Standards, neue Foren und neue Vereinbarungen eingeführt, so weit, dass man heute sagen kann, dass der Multilateralismus alle Bereiche menschlicher Betätigung abdeckt: Frieden und Sicherheit, Menschenrechte, Entwicklung, Handel und Finanzen, Gesundheit, die Umwelt, Fischerei, Transport- und Kommunikationswege, Bildung, Wissenschaft und Technologie und so weiter. 

Es wäre wohl schwierig, ein Dokument zu finden, welches die exponentielle Entwicklung des Multilateralismus besser abbildet, als das erst kürzlich veröffentlichte Weißbuch Multilateralismus der deutschen Bundesregierung. In diesem faszinierenden Dokument erzählt uns die deutsche Regierung, dass „Deutschland Mitglied oder Beobachter von über 80 internationalen Organisationen und Vertragspartner in einigen hundert multilateralen Abkommen“ ist, einschließlich natürlich der Allianz für den Multilateralismus. Wenn Kanada eine eben solche Zählung für sich machen würde, könnte es sicher eine ähnliche Zahl vorweisen. 

Seite für Seite zeigt die Bundesregierung in diesem Weißbuch, inwieweit sie ihre Ziele verfolgt, indem sie sich auf internationale Standards stützt oder vorschlägt, durch das Wirken zahlreicher internationaler Organisationen, neue Standards zu schaffen. Betrachten wir einmal die Seiten, die das Weißbuch dem „Multilateralismus, der Frieden und Sicherheit dient“ widmet, als nur ein Beispiel - und ich habe es zu Ehren von Botschafterin Baumann gewählt, da es sich um den Sektor handelt, der ihre Verantwortlichkeiten abdeckt. Die deutsche Regierung erklärt, dass sie nicht nur gemeinsam mit den Vereinten Nationen, der EU, der NATO, der OSZE, der OWZE und der Weltbank agiert, sondern, dass jede dieser wichtigen Institutionen mehrere Missionen, Organisationen oder Fonds überwacht, in denen Deutschland eine Rolle spielt. Das Weißbuch beschreibt im Besonderen die Anstrengungen Deutschlands: den den Gemeinsamen umfassenden Aktionsplan mit Iran wieder vollständig in Kraft zu setzen; den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) zu stärken; den Vertrag über den offenen Himmel trotz des Rückzugs der USA zu retten; eine nukleare Abrüstungsdynamik im Rahmen der Stockholm-Initiative zu erneuern; durch die Gründung des „Strukturierten Dialogs“ und durch Einbeziehung aller OSZE-Staaten die Risikominderung und Sicherheit in Europa voranzutreiben; die Proliferationsfinanzierung durch aktive Beteiligung an der Arbeitsgruppe zur Geldwäschebekämpfung einzudämmen; die Effizienz des Chemiewaffenübereinkommens (CWÜ) der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) zu verbessern; die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beratungsmechanismus im Rahmen des Übereinkommens über das Verbot biologischer Waffen (BWÜ) voranzutreiben und den Mechanismus des UN- Generalsekretärs zur Untersuchung des mutmaßlichen Einsatzes biologischer und chemischer Waffen zu unterstützen; das Ottawa-Übereinkommen über Antipersonenminen und das Übereinkommen über Streumunition zu unterstützen, wobei Deutschland den Vorsitz der Unterstützungsgruppe für Minenräumung innehat und Mitveranstalter der UN-Minenräumungskonferenz ist; sich mit den Risiken neuer Raketentechnologien durch Beteiligung an der „Missile Dialogue Initiative“ auseinanderzusetzen... 

 

Diese Beispiele zeigen ausgezeichnet, was Multilateralismus konkret ist: institutionalisierte Mechanismen, die eine immense Anzahl an politischen Figuren, Diplomaten, Experten, Unterhändlern und Wissenschaftlern in Bewegung setzen, mit dem Ziel, die Zusammenarbeit souveräner Staaten und privater Organisationen in allen Bereichen aufzubauen. Wenn man Kanadas Interventionen im selben Bereich der globalen Sicherheit beschreiben würde, wäre die Aufzählung natürlich genauso lang und recht ähnlich, mit Nuancennatürlich. Kanadas Bestrebungen, einen Vertrag zum Verbot der Produktion von Spaltmaterial für Nuklearwaffen (FMCT) ins Leben zu rufen, ist nur ein Beispiel. 

Wir können die gleiche Übung machen, indem wir gemeinsam das Kommuniqué des letzten G7-Gipfels oder des letzten Gipfels zwischen Kanada und der Europäischen Union lesen: Es wird um den Internationalen Währungsfonds, die Weltgesundheitsorganisation, COVAX, den ACT-Accelerator, den Global Health Summit, UNICEF, die Handels- und Gesundheitsinitiative der Welthandelsorganisation, die Welternährungsorganisation, die Weltorganisation für Tiergesundheit, das Umweltprogramm der Vereinten Nationen, die Konferenz der Vereinten Nationen über Klimaänderungen, die UN-Konferenz über biologische Vielfalt, die Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen, usw. gehen. 

Als Ergebnis dieser Gipfeltreffen werden zudem oft neue multilaterale Initiativen ins Leben gerufen. So haben die Europäische Union und Kanada zum Beispiel mit Freude die Gründung einer neuen strategischen Partnerschaft zu Rohstoffen bekanntgegeben, die für den Übergang zu sauberer Energie unerlässlich sind. 

Stellen wir uns nun die Frage, wie diese immensen internationalen Kooperationsbemühungen, die mit dem Multilateralismus verbunden sind, zu bewerten sind. Denn wenn der Multilateralismus nicht funktioniert, muss die deutsche Regierung gewarnt werden, dass alle Maßnahmen, die sie in ihrem Weißbuch beschreibt, nutzlos sind! 

Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass das multilaterale System der Menschheit seit 1945 gute Dienste geleistet hat, auch wenn die Staaten weit davon entfernt waren, es immer zu respektieren. Es gibt kaum noch Kriege zwischen Staaten, und der noch nicht lange zurückliegende Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien war eine bedauerliche Ausnahme, die ein Einzelfall bleiben muss. Trotz dem die Zahl der aktiven innerstaatlichen Konflikte in den letzten Jahren zugenommen hat, hauptsächlich aufgrund der Aktivitäten gewalttätiger dschihadistischer Gruppen, geht die Zahl der Opfer solcher Konflikte weiter zurück.

Seit 1945 gibt es deutlich weniger Handelshemmnisse, universelle Rechte werden viel mehr geachtet, die Entkolonialisierung hat stattgefunden, und die Bildung hat ein spektakuläres Niveau erreicht. Zwischen 1970 und 2020 verdoppelte sich die Weltbevölkerung und verfünffachte sich der Wohlstand der Menschheit. Im selben Zeitraum stieg die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit von 56 auf 72 Jahre. Der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben (mit weniger als 2 US-Dollar pro Tag), fiel nach Angaben der Weltbank von jedem Zweiten (48%) im Jahr 1970 auf weniger als jeden Zehnten 2020. 1990 hatte fast jeder dritte Mensch keinen Zugang zu Elektrizität, heute ist es nur noch jeder Zehnte. So wurden spektakuläre Fortschritte erzielt, die auf viele Gründe zurückgeführt werden können, die aber nicht möglich gewesen wären, wenn Staaten nicht eine Reihe gemeinsamer Ziele, gesetzlicher Regelungen, internationaler Organisationen und anderer kollektiver Instrumente respektiert hätten, die wichtige Bestandteile des Multilateralismus sind. 

Genauso hat sich auch unsere Fähigkeit, Pandemien zu kontrollieren, wesentlich verbessert. Unser Ärger über Impfstoff-Nationalismus und unsere Ungeduld mit dem Tempo der Corona-Impfungen weltweit sind berechtigt. Aber auch hier werden wir unsere Ziele nur durch die Verbesserung unserer multilateralen Instrumente erreichen. Es ist zum großen Teil den multilateralen Institutionen zu verdanken, dass die Menschheit enorme Fortschritte in den Bereichen des medizinischen Wissens, der Behandlungsmethoden, Gesundheitssysteme und wissenschaftlicher Zusammenarbeit gemacht hat. Hat es uns nicht überrascht, dass wir in der Lage waren, Impfstoffe in weniger als einem Jahr herzustellen? Je freier die Wissenschaft über Ländergrenzen hinaus agiert, desto schneller sind wir bei unverzichtbaren Innovationen. 

In Zukunft müssen wir in unserer internationalen Zusammenarbeit weitere Fortschritte erzielen, denn unsere wichtigsten Herausforderungen sind allesamt global. Dazu gehört, Epidemien zu verhindern und besser einzudämmen, wenn sie auftreten; Maßnahmen gegen die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels und den starken Rückgang der Artenvielfalt zu ergreifen; die bald neun Milliarden Menschen zu ernähren, ohne unsere Ökosysteme zu erschöpfen; sicherzustellen, dass der Zugang zu Süßwasser nicht zu einer Konfliktursache wird; den kalten Krieg und den nuklearen Rüstungswettlauf nicht wieder aufflammen zu lassen; die Bevölkerung vor internationalem Terrorismus und Cyberangriffen zu schützen; die weit verbreitete Steuerhinterziehung zu beenden; das Wohlstandsgefälle zwischen und innerhalb von Ländern zu verringern, sowie Migrationsströme auf menschenwürdige Weise zu steuern und deren Ursachen zu bekämpfen. Eine der Voraussetzungen für die Erreichung dieser Ziele ist ganz klar der Multilateralismus – nicht unbedingt ein immer umfassenderer Multilateralismus, aber sicherlich einer, der zunehmend effektiver ist. Dies sind globale Probleme und sie erfordern eine intensive Zusammenarbeit, um Lösungen zu finden, die von effektiven multilateralen Organisationen unterstützt werden. 

Wir erholen uns gerade von dem Trauma, vier Jahre lang einen amerikanischen Präsidenten gehabt zu haben, der sich offen gegen Multilateralismus ausgesprochen hat. Da die Vereinigten Staaten seit 1945 eine führende Rolle bei der Entwicklung des gegenwärtigen multilateralen Systems spielen, war es verständlich, dass ernsthafte Bedenken geäußert wurden. Der neue amerikanische Präsident ist jedoch entschlossen, eine positive Rolle zu spielen und das sind gute Nachrichten. 

Seit seinen Anfängen hat sich Multilateralismus in einem Spannungsfeld zwischen Großmächten, die sich gegenseitig verdächtigen, multilaterale Institutionen zur Ausweitung ihrer Einflussbereiche nutzen zu wollen, entfaltet. Diese Rivalität der Großmächte wird fortbestehen, insbesondere zwischen den Vereinigten Staaten und China. Es gibt jedoch eine wachsende Dimension dieser Rivalität, die ich zum Schluss hervorheben möchte. 

Wenn ich das Hauptspannungsfeld beschreiben müsste, mit dem das multilaterale System in den nächsten Jahren konfrontiert wird, würde ich sagen, dass es der Konflikt zweier Auffassungen sein wird: die eine, die sich in demokratischen Staaten immer weiterentwickelt, und die andere, die in autoritären Regimes noch besteht. 

Die Bevölkerung der demokratischen Staaten ist, besonders durch die neuen Informationskanäle, den Schrecken der Welt, wie Massakern oder Unterdrückung, direkter ausgesetzt. Unsere Bürger*innen reagieren sehr heftig auf diese Ungerechtigkeiten und verlangen von ihren Regierungen, Druck auf diese repressiven Regime auszuüben, auch durch Handel und persönliche Sanktionen.

 

Die Folge ist, dass demokratische Staaten zunehmend eine universelle Vorstellung vom Multilateralismus entwickeln, die ihn in all seinen Facetten in den Dienst der Förderung der Demokratie und universeller Rechte stellt. Autoritäre Regime, allen voran China und Russland, lehnen diesen Menschenrechtsansatz natürlich ab, den sie, unter dem Deckmantel des Universalismus, als westlich geprägt anprangern. Sie wollen an einer westfälischen Auffassung des Multilateralismus festhalten, bei der Staaten kooperieren, ohne sich in die innere Politik der anderen einzumischen. 

Vor diesem Hintergrund wird sich der Multilateralismus in den kommenden Jahren weiterentwickeln. Es liegt auf der Hand, dass die Erreichung all unserer Ziele eine enge Zusammenarbeit zwischen zwei demokratischen Staaten erfordert, die sich so ähnlich sind wie Deutschland und das Land, das in einer kürzlich durchgeführten Umfrage in elf nordamerikanischen und europäischen Ländern als verlässlichster Partner bewertet wurde: Kanada. Zu diesem Zweck wird das Weißbuch Multilateralismus der deutschen Bundesregierung zweifellos ein nützliches Referenzdokument für Kanada, sowie für alle Staaten bleiben, die an einer Zusammenarbeit im Hinblick auf globale Herausforderungen und den menschlichen Fortschritt interessiert sind. 


Anmerkungen anlässlich eines von der Goethe Universität Frankfurt am 22. Juni 2021 veranstaltenden digitalen runden Tisches zu Deutschlands neuem Weißbuch Multilateralismus, Aufzeichnung hier verfügbar.

Stéphane Dion

Stéphane Dion is Ambassador of Canada to Germany and Special Envoy of Prime Minister Justin Trudeau to the European Union and Europe as well as former Minister of Foreign Affairs.

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