„Groß genug für Europa, klein genug für die Welt“ – Multilateralismus als deutsches Schicksal


Die Henry Kissinger zugeschriebene Aussage aus den 1970er Jahren, dass Deutschland „zu groß für Europa und zu klein für die Welt“ sei, ist häufig zitiert worden. Die pointierte Analyse der geopolitischen Lage und der militärischen Leistungsfähigkeit Deutschlands verwies einerseits auf die globalen Ambitionen, andererseits auf die destruktive Rolle, die Deutschland seit Bismarcks Zeiten eingenommen hatte. Dass die deutsche Außenpolitik seither einen fundamentalen Wandel durchlaufen hat, wird nicht zuletzt darin deutlich, dass Kissinger erst kürzlich in einem Interview ein „globales Deutschland“ forderte: Deutschland verfüge nunmehr über „die Ressourcen und die Geschichte, um ein wichtiger Faktor für die Zukunft zu sein“. Was genau (oder wie sich Deutschland) verändert hat, konnte er angesichts des begrenzten Rahmens eines Interviews nicht genauer ausführen. In diesem Essay werde ich argumentieren, dass Kissinger sich der im Titel vorgeschlagenen Adaption seines damaligen Zitates wahrscheinlich anschließen könnte. Dabei soll insbesondere die Bedeutung des Multilateralismus beleuchtet werden.



Im Zuge zweier Interviews, die ich in der vergangenen Woche über das Post-Merkel-Deutschland sowie die Auswirkungen des G7-Gipfels führte (vgl. STERNFAZ), kam mir Kissingers berühmter Einzeiler in den Sinn. Die vorgeschlagene Adaption im Titel dieses Essays erweist sich vor allem mit Blick auf die Frage als aufschlussreich, warum in der Gegenwart die Angst vor Deutschland nicht nur abgenommen hat, sondern sogar durch die Forderung nach mehr deutscher Führung ersetzt wurde.

„Groß genug für Europa“ und „klein genug für die Welt“ kann als eine zeitgemäße Adaption begriffen werden, die Kissingers Hinweise im Hinblick auf zwei unterschiedliche Dimensionen in der Analyse der Position und des Gewichts Deutschlands konkretisiert. Europa erweist sich darin als Dreh- und Angelpunkt deutscher Selbstbehauptung in der Welt, da Europa nach wie vor der zentrale Faktor jedweder weitergehenden Rolle ist, die Deutschland zukünftig spielen könnte. Für die Deutschen ist Europa in vielerlei Hinsicht als conditio sine qua non zu verstehen – oder, wie Altkanzler Helmut Kohl formulierte: „Europa ist unsere Zukunft. Europa ist unser Schicksal“. Als Kissinger in den 1970er Jahren sagte, dass Deutschland „zu groß“ für Europa sei, bezog er sich damit auf das Deutschland vor 1945, dessen territoriale Ausdehnung und Macht, gemessen in wirtschaftlicher Stärke und militärischer Schlagkraft, für seine Nachbarn einfach unverdaulich waren. Vor diesem Hintergrund verweist der Titel, dass Deutschland heute „groß genug“ für Europa und zugleich „klein genug“ für die Welt sei, auf mehrere Aspekte.

Die Ambition und die Anerkennung deutscher Führung

Erstens verweist der Titel darauf, dass Deutschland drei Jahrzehnte nach der Vereinigung erstmals groß genug und auch mental darauf vorbereitet ist, eine Führungsrolle anzustreben. Nicht minder wichtig ist aber auch, dass es in diesem Anspruch auch anerkannt und unterstützt wird. Ein Wortspiel des früheren deutschen Außenministers (und jetzigen Bundespräsidenten) Frank-Walter Steinmeier von 2015 ist in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich. Deutschland, so Steinmeier, werde danach streben „Europas CFO“ zu sein – wobei er (im Kontrast zur üblichen Übersetzung als „Chief Financial Officer“ vom „Chief Facilitating Officer“ sprach. Zum einen hob er damit hervor, dass Deutschland außenpolitisch eben nicht mehr auf die altbekannte „Scheckbuchdiplomatie“ reduziert werden wollte. Zum anderen unterstrich er damit, dass deutsche Außenpolitiker nunmehr bereit wären, selbstbewusst die „Chef“-Position zu übernehmen – wenngleich in der Form eines „Chefvermittlers“.

Führungsambition allein ist allerdings nicht hinreichend, wenn es dem jeweiligen „Chef“ nicht gelingt, jene Gefolgschaft zu mobilisieren, die diese Führung auch anerkennen und akzeptieren muss. Seit einigen Jahren mehren sich jedoch in dieser Hinsicht die Zeichen, dass eine derartige deutsche Führungsrolle unter Verbündeten und Partnern innerhalb der Europäischen Union nicht nur akzeptiert, sondern sogar gefordert wird. So erinnerte Klaus-Dieter Frankenberger jüngst zurecht an die Rede des ehemaligen polnischen Außenministers Sikorski aus dem Jahre 2011, in der er seine deutsche Zuhörerschaft bei der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ mit der Aussage überraschte, dass er „wahrscheinlich der erste polnische Außenminister in der Geschichte“ sein werde, der sage, dass er „weniger die deutsche Macht, als die deutsche Untätigkeit fürchte. Sie sind Europas unverzichtbare Nation“. Von den Kritikern deutscher Zurückhaltung wurde diese Aussage nur zu gerne aufgegriffen. Genauso gerne übersehen wurde dabei aber auch der Zusatz, den Sikorski machte: „Sie dürfen in dieser Führung nicht versagen – nicht dominieren, sondern die Reform (der EU) anzuführen. Polen wird Sie darin unterstützen,vorausgesetzt Sie beziehen uns in die Entscheidungsprozesse ein“ [alle Übersetzungen GH].

Qualifizierte Gefolgschaft

Dies ist das typische Muster, wenn Deutschlands EU-Partner deutsche Führung fordern: Deutschland solle genau so führen, wie es der potenzielle Gefolgsmann X wünscht – und Deutschland könne genau dann auf willige Gefolgschaft zählen, wenn X „in die Entscheidungsfindung einbezogen“ werde. Damit aber ziehen derartige Anforderungen an eine deutsche Führungsrolle unweigerlich zwei widersprüchliche Effekte nach sich: sie machen Gefolgschaft abhängig davon, dass Deutschland in spezifischer Weiseführt, was umgekehrt, sollte dem entsprochen werden, den Widerstand jener anderen, nicht minder wichtigen Teile notwendiger Gefolgschaft hervorrufen wird, die mit ihren je eigenen Präferenzen nicht in ähnlicher Weise in die Entscheidungsfindung einbezogen wurden.

In diesem Sinne verweist Steinmeiers Übersetzung von CFO als „Chief Facilitating Officer“ nur zurecht darauf, dass der Erfolg der deutschen Führung unweigerlich von der Einbeziehung unterschiedlicherPartnerinteressen abhängt. Zum Glück hat die außenpolitische Klasse Deutschlands, und hierauf verweist vor allem das „groß genug“ im Titel, schon lange das verinnerlicht, was Jeffrey Anderson als „reflexive“ oder „instinktive Unterstützung für den Multilateralismus“ bezeichnete. Dreißig Jahre nach der deutschen Vereinigung und den damals damit einhergehenden Ängsten vor einem drohenden „Vierten Reich“ scheinen die Deutschen ihre EU-Partner davon überzeugt zu haben, dass der außenpolitische Habitus, der in mehr als vierzig Jahren bundesdeutscher Außenpolitik zu einer „Kultur der Zurückhaltung“ geronnen war, derart tief im außenpolitischen Bewusstsein der „Bonner Republik“ verwurzelt ist, dass man den Deutschen nunmehr trauen kann, nicht zu „dominieren“.

Europäische Anerkennung deutscher Führung

Zwei aktuelle Umfragen, eine vom German Marshall Fund und eine weitere von Pew, dürften viele Deutsche aber noch immer überraschen. Die Transatlantic Trends 2021-Umfrage etwa zeigt, dass eine deutliche Mehrheit der europäischen Öffentlichkeiten Deutschland als „einflussreichstes Land Europas“ einschätzt. Dabei liegt Deutschland selbst unter den zögerlichsten Bevölkerungskreisen (im Vereinigten Königreich und in der Türkei) noch vor der Bewertung des jeweils eigenen Heimatlandes (45% zu 36% im Vereinigten Königreich und 45% zu 25% in der Türkei). In Frankreich, Polen, Italien und Spanien halten sogar mehr als 70% der jeweiligen Bevölkerung Deutschland für einflussreicher als ihr Heimatland. Besonders signifikant erweist sich dabei, dass unter den Franzosen und den Deutschen weitgehende Einigkeit über die gravierenden Einflussunterschied der beiden Länder besteht. So betrachten 71% der Deutschen bzw. 72% der Franzosen Deutschland als das einflussreichste Land, während nur 11% der Deutschen und 17% der Franzosen Frankreich als solches bezeichnen würden. Nur in den USA und Kanada liegt das Vereinigte Königreich immer noch vor Deutschland (44% zu 23% in den USA und 44% zu 35% in Kanada). 

In einer Pew-Umfrage, die von März bis Mai 2021 in sechzehn europäischen und asiatischen Ländern, die mit den USA und der EU verbündet sind, durchgeführt wurde, rangierte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei den individuellen „Vertrauensbewertungen“ etwas höher als US-Präsident Joe Biden. Bei den vom GMF befragten Allianzpartnern ist das Vertrauen in Deutschland als „verlässlicher Partner“ dabei ähnlich hoch. Nur Kanada lag mit 75% vor Deutschland, das jedoch seinerseits mit 73% der Stimmen vor Frankreich (66%), den und dem Vereinigten Königreich lag (beide jeweils 60%). Rechnet man eine weitere Umfrage des European Council on Foreign Relations von Ende 2020 hinzu, so sticht eine weitere Beobachtung ins Auge: Die Wahrnehmung, dass die USA ein verlässlicher Partner seien, ist in Europa geschwunden (ein Eindruck, der von Transatlantic Trends 2021 und Pew bestätigt wurde). Zudem liegen Deutschland und die USA hinsichtlich der Frage, wer als bevorzugter Verbündeter gesehen werde, gleichauf. So wählten die Befragten der ECFR-Umfrage in Frankreich, Spanien, Dänemark, den Niederlanden, Portugal und Ungarn Deutschland als bevorzugten Verbündeten. Nur Befragte im Vereinigten Königreich (55%), Polen (45%), Italien (36%) und Schweden (36%) setzten die USA an die erste Stelle (wobei Deutschland mit 35% im schwedischen Ranking fast gleichauf mit den USA lag).

Europas stärkste Wirtschaftsmacht und die wachsenden Interdependenzen

Das wachsende Zu- und Vertrauen in deutsche Führung innerhalb Deutschlands wie auch unter den deutschen Verbündeten verstärken, zweitens, eine weitere Dimension eines deutschen „groß genug“ für Europa. So nimmt die relative Wirtschaftskraft der Deutschen nach dem Brexit nicht nur zu, sondern im Vergleich zum EU-Durchschnitt scheinen die Deutschen auch besser darauf vorbereitet zu sein, die wirtschaftlichen Folgen der COVID-19 Pandemie abzufedern. Darüber hinaus hat die Entscheidung der Bundesregierung, Schulden in Höhe von 750 Milliarden Euro zu vergemeinschaften, damit die EU-Mitgliedsstaaten die Folgen der durch die Pandemie evozierten Wirtschaftskrise besser meistern können, dazu geführt, dass das Gewicht Deutschlands innerhalb der EU und die wechselseitige Verflechtung merklich zugenommen haben. Nichtsdestotrotz ist unübersehbar, dass die EU auf dem Weg zur wirtschaftlichen Erholung vor enormen Herausforderungen steht, gerade im Vergleich zu den Volkswirtschaften der USA und China, die deutlich besser aufgestellt scheinen. Dies dürfte allerdings den Druck auf die Europäer, gemeinsam zu handeln, tendenziell verstärken.

Deutschlands wachsende militärische Rolle

Drittens kann man argumentieren, auch wenn dies streitbarer sein dürfte als das bisher Gesagte, dass Deutschland auch im Blick auf seine militärischen Fähigkeiten sowohl groß als auch klein genug für Europa und die Welt ist. Hier hilft ein Blick auf aktuelle SIPRI-Daten. Im Jahr 2020 hat Deutschland ebenso viel wie Frankreich für Verteidigung ausgegeben, konkret etwa 53 Milliarden US-Dollar (gemessen anhand des US-Dollar-Kurses im Jahr 2019), was nur geringfügig unter den Ausgaben des Vereinigten Königreichs (mit 59 Milliarden US-Dollar) lag. Im Vergleich zu 2010 waren die deutschen Verteidigungsausgaben sogar deutlich schneller gestiegen als jene Frankreichs (von 41 Milliarden US-Dollar im Vergleich zu 48 Milliarden US-Dollar in Frankreich), während die Ausgaben des Vereinigten Königreichs sogar geschrumpft sind. Vor diesem Hintergrund muss es etwas merkwürdig anmuten, dass sich die Debatten über die Verteidigungsausgaben innerhalb der NATO und der EU fast ausschließlich auf prozentuale Anteile im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt beziehen (und Deutschland in dieser Hinsicht mit 1,4% im Jahr 2020 und Frankreich (2,1%) und Großbritannien (2,2%) deutlich hinterherhinkt). 

Diese Fixierung auf prozentuale Anteile im Allgemeinen und die Beschlüsse des NATO-Gipfels in Walesim Besonderen (nach dem alle Mitglieder das Ziel anstreben sollten, 2% ihres BIP in Verteidigung zu investieren) verfehlt jedoch den grundlegenden Aspekt einer geopolitischen Analyse im Sinne Kissingers. Demzufolge sind nämlich die relativen militärischen Fähigkeiten zwischen Verbündeten und Gegnern ins Verhältnis zu setzen und am Ende des Tages jeweils absolut (d.h. hinsichtlich der kollektiv mobilisierbaren Stärke und Effektivität der Streitkräfte angesichts einer bestimmten Bedrohungslage) zu bemessen. Und dieser Punkt ist deshalb alles andere als marginal, weil sich Kissingers klassisches „zu-groß-für-Europa“-Argument in erster Linie auf die Unverdaulichkeit deutscher Militärmacht im europäischen Kräfteverhältnis des späten 19. Und frühem 20. Jahrhunderts bezog. 

Das deutsche Militär, seine strukturellen Mängel und die Geister der „Militarisierung“

Es dürfte unstrittig sein, dass Deutschlands Streitkräfte heute keine Bedrohung für seine Nachbarn darstellen, wenn man offensive militärische Fähigkeiten und die Fähigkeit zu unilateralem Vorgehen ins Zentrum rückt. Ganz im Gegenteil kann zurecht argumentiert werden, dass die Bundeswehr nicht nur unterfinanziert, sondern in Teilen sogar nicht einsatzfähig ist. Darüber hinaus gilt es hervorzuheben, dass Deutschland nicht nur materiell, sondern auch strukturell nicht dazu in der Lage wäre, einen Angriff zu initiieren. Dafür ist es viel zu tief in die kollektiven Verteidigungsstrukturen der NATO und EU eingebettet. Über das politische Mainstream-Spektrum von Christdemokraten und Liberalen bis hin zu den Sozialdemokraten und den Grünen gibt es daher einen grundsätzlichen Konsens, dass die Bundeswehr in die Lage versetzt werden müsse, ihr Mandat auch tatsächlich zu erfüllen.

Uneins sind sich Expert*innen allerdings in der Frage, wie hoch diese Investitionen angesichts der konkurrierenden Forderungen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sowie der finanziellen Belastungen durch die Folgen der COVID-19-Pandemie tatsächlich ausfallen können. Gerade die Bundeskanzlerin ist wiederholt als Skeptikerin einer starken Erhöhung der Verteidigungsausgaben aufgefallen. So argumentierte sie in einem ihrer seltenen Auftritte bei der Bundeswehr aus dem Jahr 2018, dass „diese zwei Prozent kein Fetisch sind“ und, noch erstaunlicher, dass wir alle „ein bisschen aufpassen müssen, dass die Entwicklung hin zu zwei Prozent nicht womöglich als eine Militarisierung Deutschlands interpretiert wird“. Das Militarisierungsvokabular, das in den 1990er Jahren vor allem den linken politischen Diskurs dominierte, in den letzten Jahren aber gerade auch dort merklich seltener gebraucht wurde, erinnert jedenfalls an eine in die Zeit der Bonner Republik zurückreichende und unterschwellig nach wie vor vorhandene Sorge – dass nämlich deutsche Macht im Allgemeinen, wie sie sich traditionell in wirtschaftlicher und finanzieller Stärke manifestiert, und militärische Macht im Besonderen eingehegt bleiben muss, um Ängste vor deutscher Dominanz nicht zu wecken bzw. sofern sie vorhanden sind sie nicht zu verstärken. Denn trotz des beeindruckenden EUropäischen Vertrauensvotums gegenüber Deutschland halten sich derartige Bedenken nach wie vor in ganz Europa (Hellmann 2016, S.5-7).

Höhere Verteidigungsausgaben und neue strategische Realitäten

Andere deutsche Sicherheitsexpert*innen und Verbündete, vor allem in den USA, betonen demgegenüber die Notwendigkeit, dass Deutschland die offizielle Zielvorgabe einer Steigerung der Verteidigungsausgaben um 1,5% bis 2024 übertreffen und sich von der „künstlichen Fixierung“ auf Prozentsätze lösen müsse. Letztere Forderung ist darauf zurückzuführen, dass das Wirtschaftswachstum pandemiebedingt sank, wodurch eine relative prozentuale Erhöhung der Verteidigungsausgaben erzielt wurde, ohne dass tatsächlich mehr für Verteidigung ausgegeben wurde. Nichtsdestotrotz gilt es festzuhalten, dass die Verteidigungsausgaben sowohl nominal als auch real (siehe Abbildung 1) anstiegen und sie zugleich schneller wuchsen als in anderen NATO-Staaten. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass dieses Wachstum ausgehend von einer deutlich niedrigeren Ausgangsbasis zu verzeichnen ist und, was für Insider des Verteidigungsministeriums sowie die USA noch beunruhigender ist, die Investitionen nicht die erhoffte Wirkung entfalten, wie ein geleaktes internes Dokument des Verteidigungsministeriums im Februar 2021 zeigte.

Abbildung 1: Nominale und reale Verteidigungsausgaben in Deutschland (in Mrd. EUR, konstante Preise 2019)

Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Verfügbare Rohdaten hier.

Andere Expert*innen, wie etwa Bastian Giegerich und Maximilian Terhalle gehen sogar noch weiter. In einem vor wenigen Tagen veröffentlichen Beitrag kritisieren sie „etablierte Positionen“ im deutschen Sicherheitsdiskurs. Aus ihrer Sicht ist der gesamte „strategische Diskurs“ innerhalb Deutschlands grundlegend defizitär. Unter anderem diagnostizieren sie eine weit verbreitete Ignoranz im Lichte sicherheitspolitischer „Realitäten“, eine jahrzehntelange „irreführende Anwendung geschichtlicher Lehren“ hinsichtlich der Rechtfertigung einer „Zivilmachtrolle“ wie „konzeptionelle Verwirrungen“ hinsichtlich der Bedeutung des Strategiebegriffes selbst. In diesem Sinne ist bereits der Titel ihres Buches „Die Verantwortung zu verteidigen“ genauso schlau wie er aufschlussreich ist: es ist der Versuch, den Diskurs einer UN-inspirierten kollektiven „Schutzverantwortung“ mit dem „moralischen Zweck“ zu koppeln und den vermeintlich kurzsichtigen Verantwortungsdiskurs der Deutschen aus der Fixierung auf das „Dritte Reich“ herauszulösen und stattdessen auf eine „Verantwortung zur Verteidigung“ der Verbündeten umzulenken. Schlau daran ist, dass die Empfänglichkeit der deutschen Öffentlichkeit für einen „Verantwortungsdiskurs“ geschickt genutzt wird. Es ist aber auch aufschlussreich, weil „Verantwortung“ mobilisiert wird, um den „Realitäten“ allseitiger „Machtpolitik“ gerecht zu werden. Völlig unter geht dabei, dass der Begriff der „Verantwortungspolitik“ noch in den Zeiten des Umbruchs der Vereinigung im Jahr 1990 für das genaue Gegenteil von „Machtpolitik“ stand.

Europa und deutsche militärische Führung

In den Hauptstädten Europas bleiben solche diskursive Verschiebungen nicht unbemerkt. Gewiss, Forderungen wie sie Giegerich und Terhalle formulieren, müssen in einen breiteren politischen Kontext eingeordnet werden, der die anhaltende Präferenz für einen zurückhaltenden Führungsansatz (Steinmeiers „Chief Facilitating Officer“) unter außenpolitischen Entscheidungsträgern in Rechnung stellt. Eine der bemerkenswertesten (und nicht hinreichend beachteten) programmatischen Reden hat in diesem Zusammenhang Bundespräsident Steinmeier auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020gehalten: „Europa ist für Deutschland eben nicht nur "nice to have" und nicht nur wichtig, wenn andere Partnerschaften verblassen. Es ist unser stärkstes, unser elementarstes nationales Interesse. Für heute und für morgen gilt: Europa ist der unabdingbare Rahmen für unsere Selbstbehauptung in der Welt“. In diesem Zuge erinnerte Steinmeier seine Zuhörer daran, dass das deutsche Grundgesetz in seiner Präambel auch das „nationale Interesse“ definiere: „den Weltfrieden als gleichberechtigter Partner in einem vereinten Europa zu fördern“. Mit anderen Worten: Weder in der deutschen Verfassung noch im Völkerrecht gibt es eine „Verteidigungsverantwortung“. Neben dem „inhärenten Recht auf kollektive oder individuelle Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs“ (§51 UN Charter) beinhaltet das Völkerrecht eine „Schutzverantwortung“ – nicht mehr und nicht weniger. Wie sich „Machtpolitik“ mit dem normativen Imperativ der „gleichberechtigten Partnerschaft“ des Grundgesetzes versöhnen ließe, bleibt im Dunkeln.

Deutsche Führung zwischen wachsendem Unbehagen und instrumentellem Vertrauen

Es erscheint also fraglich, ob und inwiefern es Deutschland bzw. Europa helfen würde, wenn Berlin sich stärker „machtpolitisch“ engagierte. So sei bspw. an den jüngsten NATO-Gipfel erinnert, bei dem sich der polnische Außenminister darüber beschwerte, dass US-Präsident Biden mit dem angedeuteten Verzicht auf US-Sanktionen angesichts von Nordstream 2 zumindest indirekt die zentrale Rolle Deutschlands in Europa hervorhob – und dies trotz starker parteiübergreifender Unterstützung im US-Kongress und trotz der Tatsache, dass nur wenige deutsche Verbündete in der EU die Fertigstellung der Pipeline unterstützen. Vor diesem Hintergrund ist es derzeit schwer vorstellbar, dass ein polnischer Außenminister (oder einer seiner Kollegen aus Mitteleuropa) eine „Sikorski-Rede“ in Berlin halten würde.

Deutschland ist insofern bereits heute politisch und militärisch ein bisschen „gleicher“ als seine EU-Partner – und sicherlich auch groß genug für die meisten seiner Nachbarn. Dies widerspricht allerdings nicht der Tatsache, dass einige geographisch weiter entfernte Partner, vor allem in den baltischen Republiken, ein noch stärkeres militärisches Engagement aus Berlin begrüßen würden, und zwar ungeachtet der äußerst skeptischen öffentlichen Meinung in Deutschland (ZMS 2020, S.71). Dass gerade US-Expertinnen und –Politiker meist wenig Grund sehen, Zweifel bezüglich deutscher Hegemonialambitionen zu nähren, lässt sich (gerade im Vergleich zu Deutschlands unmittelbaren Nachbarn) recht einfach mit unterschiedlich ausgeprägter historischer Erinnerung erklären. Dass gerade unter US-Experten immer wieder Erstaunen über angeblich verbliebene deutsche Selbstzweifel geäußert und umso stärker betont wird, dass man den Deutschen vollauf vertraue, lässt sich aber auch instrumentell erklären, wenn man bedenkt, dass die USA ihre politische Aufmerksamkeit und ihre militärischen Ressourcen verstärkt nach Asien umlenken wollen.

Verortet man solche Aussagen im Kontext der jüngsten Veränderungen strategischer Planungen in den USA (d.h. dass statt wie bislang zwei Kriege parallel zukünftig nur noch ein Krieg mit einer anderen Großmacht geführt werden soll, eine Änderung, die US-Verteidigungsexpert*innen als „den bedeutendsten Schritt in der amerikanischen Verteidigungsstrategie seit dem Ende des Kalten Krieges“ mit „enormen Auswirkungen“ bezeichnen – dann ist dies gerade für die europäischen Verbündeten der USA ein durchaus beunruhigendes Zeichen. Anzuerkennen, dass es nach wie vor einer amerikanischen „Pacifier“-Rolle“ in Europa bedarf, wäre für Washington allerdings höchst kontraproduktiv, wenn man bedenkt, dass in China heute eine derart große Bedrohung gesehen wird, dass alles andere dagegen verblasst. Denn damit würde die Argumentation amerikanischer Wissenschaftler, wie etwa Hugo Meijer und Stephen Brooks gestützt, der zufolge sich die Europäer nach wie vor nicht selbst verteidigen könnten. Realistische Kolleg*innen in den USA (wie Barry Posenoder Stephen Walt) argumentieren demgegenüber, dass  die EU militärisch bestens gewappnet sei, weitgehend selbstständig mit der russischen Bedrohung umzugehen, eine Position, der sich aus Gründen der Kohärenz ihrer eigenen Argumentation sukzessive immer mehr US-Verteidigungsplaner anschließen könnten.

Blickt man nun nach Deutschland und Europa, so wird schnell klar, dass diese Position kaum geteilt wird. Zum einen kann eine eigenständige Verteidigungsfähigkeit der Europäer allein schon mit Blick auf die materielle Grundlage bestritten werden. Zum anderen kann der Nutzen US-amerikanischer militärischer Unterstützung nicht ausschließlich darauf reduziert werden, dass die Europäer ihre kollektive Verteidigung nicht selbst organisieren möchten. Franzosen und Polen wären wahrscheinlich nicht gerade begeistert, wenn Deutschland die traditionelle Führungsrolle der USA auch im militärischen Bereich übernehmen würde. Allein hier wird deutlich, dass – wie auch der „Economist“ seine Leser*innen jüngst erst erinnerte – eine derartige Entwicklung der historischen Nachkriegspraxis widersprechen würde, dass „Amerika immer der geheime Bestandteil der europäischen Integration war“. 

Institutionelle Bindungsverhältnisse innerhalb der Europäischen Union 

Viertens ergibt sich die Attraktivität eingehegter deutscher Macht auch daraus, dass Deutschland heute in wesentlichen Hinsichten „klein genug“ ist. Das Europa, das Kissinger als Historiker kannte, stand paradigmatisch für Großmachtpolitik und Krieg. Als Staatsmann begleitete er die Anfangsphase der europäischen Integration, jene Zeit also, in der er sich hier und da fragte „welche Telefonnummer“ man eigentlich anrufen müsse, wenn man mit einem autorisierten Vertreter von „Europa“ sprechen wolle. Institutionell mag Europa auch heute noch nicht so weit fortgeschritten sein, wie manch einer sich dies wünscht. Allerdings hat die supranationale Verflechtung seit den 1960er/70er Jahren beachtliche Fortschritte gemacht. Am wichtigsten ist dabei das Ausmaß an institutioneller Vergemeinschaftung und Entscheidungsregeln für gemeinsame politische und militärische Aktionen, die selbst die mächtigsten Mitgliedsstaaten binden. In diesem Sinne bildet Europa heute auch einen Rahmen, der eine „gezähmte deutsche Macht“ auch „klein genug“ erscheinen lässt.

Small is Beautiful 

Fünftens spiegelt sich die Attraktivität des deutschen „klein genug“ in der Strahlkraft multilateraler Praktiken, die weit über die Grenzen der EU reicht. Historisch betrachtet und gemessen an einem Verständnis, wie es etwa John Ruggie entwickelt hat, stellt die EU die reifste und am weitesten fortgeschrittene Variante multilateraler Zusammenarbeit dar. Die Verinnerlichung friedensstiftender und wachstumsförderlicher Integrations- und Kooperationspraktiken aus siebzig Jahren europäischer Zusammenarbeit erweisen sich gerade für ein mächtigeres Deutschland auch jenseits der EU als vertrauensbildende Maßnahme und als politischer Türöffner. Multilateral auch jenseits der EU-Grenzen zu agieren stärkt mithin Deutschlands Macht, weil es einerseits bereits für sich selbst betrachtet politisch und wirtschaftlich stark ist und als Teil und Führungsmacht der EU auf globaler Ebene sogar noch an Macht gewinnt. Gleichzeitig bleibt es klein genug, so dass vergangene Befürchtungen drohender hegemonialer Dominanz, wie sie Kissingers ursprüngliche Aussage anleiteten, erst gar nicht aufkommen. Dennoch verfügen die Deutschen über genügend materielle wie auch Soft Power-Ressourcen, um Kissingers Projektion eines „globalen Deutschland“, das im Steinmeier‘schen Sinne als „Chief Facilitating Officers“ agiert, Plausibilität zu verleihen.

Allianz für den Multilateralismus

Das kürzlich veröffentlichte deutsche Weißbuch zum Multilateralismus fasst das deutsche Selbstverständnis bereits treffend zusammen. Dabei bezieht es sich wesentlich auf die „Allianz für den Multilateralismus“, die Außenminister Maas gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen im Herbst 2019 ins Leben gerufen hatte. Sowohl das Weißbuch als auch die Allianz für Multilateralismus können als Antwort auf Kissingers Frage verstanden werden, wie ein „globales Deutschland“ heute aussehen könnte – ein Land, das von den Vorteilen und der Anziehungskraft weltpolitischer Kleinheit gerade im Lichte der Perspektive anderer, nicht gar so großer Mächte überzeugt ist und diese begrenzte Macht zudem dann als unausweichliche politische Realität eines jeden Staates zu akzeptieren ist, wenn man sie im Lichte der globalen Herausforderungen beurteilt, die u.a. das Anthropozän mit sich bringt.  Zu übersehen ist trotzdem nicht, dass noch immer einige deutscher Politiker*innen nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat streben, dem modernen Äquivalent des wilhelminischen Traums vom „deutschen Platz in der Sonne“. Andere Teile der politischen Klasse in Berlin scheinen inzwischen aber in einer multilateralen Vorreiter-Rolle einen hinreichenden Ersatz gefunden zu haben. In Richard Rortys Beschreibung („Achieving our Country“, S. 3) wäre ein verändertes Selbstverständnis entlang solcher Linien auch Grund genug, in neuer Art und Weise „stolz“ auf das eigene Land zu sein – eine Form des Stolzes, der auf die „emotionale Auseinandersetzung mit dem eigenen Land“ ausgerichtet ist und sich mit jenen Teilen der Geschichte oder gegenwärtiger Politik auseinandersetzt, die „sowohl Gefühle der Scham als auch des glühenden Stolzes“ hervorrufen. Beides sei „notwendig, wenn politische Deliberation einfallsreich und produktiv sein soll“. Angesichts überbordender globaler Problemagenden wird innerstaatliche wie auch internationale Deliberation dieser Art zukünftig noch wichtiger werden – und dass Deutschland in dieser Hinsicht weit besser aufgestellt zu sein scheint als in früheren Phasen seiner Geschichte als Nationalstaat, als es versuchte seine Probleme „machtpolitisch“ zu lösen, ist durchaus beruhigend.

Große Macht neu definiert

Wer dazu neigt, sich in „strategischen“ Fragen nicht auf philosophische Ratschläge zu verlassen, sei auf Wolfgang Ischinger, den Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz, verwiesen. Als Staatsminister im Auswärtigen Amt hielt er vor rund zwanzig Jahren an der Evangelischen Akademie Tutzing eine Rede über Russland. Dabei bot er u.a. eine neue Definition dessen an, was es in der Gegenwart bedeuten könnte, eine „große Macht“ zu sein. „Größe“ so Ischinger im Jahr 2001, könne nicht mehr in traditionellen Begriffen der „Macht“ definiert werden. Vielmehr müsse sie als „Kraft zu gestalten“ begriffen werden. Für eine moderne Großmacht wäre es „wichtiger zu überzeugen, als zu drohen, (..) wichtiger, einzubinden als zu beherrschen, (..) wichtiger Partner zu gewinnen, als Gegner in Schach zu halten. Das sind die Gebote des 21. Jahrhunderts“ (Friedensgutachten 2001, S.255). 

Henry Kissinger könnte vermutlich zustimmen, dass es sich dabei um eine passende Neubeschreibung „großer Macht“ sei – und dass sein Verständnis eines „globalen Deutschland“ damit kompatibel ist. In diesem Lichte würde dann auch ein Verständnis von „Schicksal“ in den Vordergrund zu rücken, das die „Bestimmung“ und nicht den Fatalismus unausweichlicher Machtpolitik betont. Der Akzent läge auf einer selbstbestimmten Zukunft, die Wahlmöglichkeiten enthält.

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