Das Forum ASEM als „Multilateralismus-Labor“ – Welche (multilaterale) Möglichkeitskarte lässt sich aus ASEM-Praktiken zeichnen?
Mit dem Asia-Europe Meeting (ASEM) lässt sich eine Karte multilateraler Möglichkeiten zeichnen. Dieses Instrument vereinfacht den Überblick über das multilaterale Netzwerkverständnis, den multidimensionalen Anspruch und die Kommunikationsstrategien des Forums. Diese zwischen Anspruch und Realität einzuordnenden Aspekte können helfen, Multilateralismus weiterzudenken.
In einer sich derzeit stark verändernden Welt, laut Kissinger (2022) vergleichbar mit dem Wandel der Aufklärung, gilt es Multilateralismus dynamisch und fortlaufend weiterzudenken. Dieses Weiterdenken funktioniert, indem man Möglichkeitskarten in verschiedenen Maßstäben (klein, mittel, groß) erstellt und diese auf ihre Produktivität für globale Ordnungsdynamiken hin auslotet. Das ist auf vielen Ebenen sinnvoll und notwendig – theoretisch, empirisch oder in hybrider Form. Die Karten wirken dabei als explorativer Wegweiser. Sie sind lebendig und interaktiv und bieten KartenschreiberInnen und -leserInnen einen Überblick über Möglichkeiten multilateraler Praktiken, ihrer Wege, Grenzen und Voraussetzungen. Je nach Blickwinkel lassen sich neue Details entdecken oder bereits Gesehenes erscheinen in einem anderen Licht.
Ein im Folgenden angewandter Vorschlag besteht darin, anhand des Asia-Europe Meetings (ASEM) als multilaterale Kooperation Wege einer fallspezifischen Möglichkeitskarte nachzuzeichnen. ASEM eignet sich als Format, da das Forum von einem traditionellen Standpunkt aus gesehen ungewöhnliche Aspekte verfolgt und so zum Um- oder Weiterdenken anregt. Wahrlich lassen sich genügend ASEM Kritik und Informationslücken durch intransparente Kommunikation und Vermittlung sowie fehlende Protokolle und Aufzeichnungen anführen. Doch eine Aufzählung dieser scheint wenig produktiv für die Erstellung der angestrebten Möglichkeitskarte. Vielmehr wage ich im Folgenden auf Grundlage des Fallbeispiels Möglichkeiten abzustecken, wie man ASEM als „Multilateralismus-Labor“ verstehen und nutzen kann.
ASEM knapp und übersichtlich darzustellen, gestaltet sich als schwieriges Unterfangen, da das Gebilde komplex und in sich verschachtelt ist. Mit seinem Facettenreichtum liegt es im Ermessen des Betrachters, welchen Aspekten beim Karten(abschnitt)zeichnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bestimmte Sehenswürdigkeiten und Pfade, um bei diesem Sinnbild zu bleiben, entdeckt man erst mit anderem Maßstab oder mit Aufnahme neuer Symbole. Dementsprechend ist das Kartenzeichnen ein permanent fortzuführendes Projekt. Die Eckdaten des Feldes zu skizzieren, erweist sich als sinnvoller, erster Schritt im endlosen Kartenzeichnen: ASEM fällt durch institutionelle Strukturlosigkeit mit informellem Charakter auf, verfügt aber über eine Aketerskonstante in Form einer festen, wenn auch heterogenen Gruppe und einer zeitlichen Rahmung mit regelmäßigem Austausch. Das Format verbindet unterschiedliche Werte und Ordnungsvorstellungen, insbesondere von Autokratien und Demokratien.
Von zunächst 26 Mitgliedern wuchs das Forum in den Jahren seit der Gründung 1996 auf 53 Mitglieder, 51 Staaten und zwei Regionalorganisationen, die EU und ASEAN, an. Die Mitglieder ordnen sich einer der zwei Regionen zu und werden in einem „two key approach“ aufgenommen. Mittlerweile verfügt ASEM über 30 europäische und 21 asiatische Länder. Regionalität wird dabei breit und gemessen an traditionellen Verteilungen neuartig, teils unüblich verstanden. Etwa zählen Neuseeland und Australien, die typischerweise eher dem Westen zugeordnet werden, zur asiatischen Gruppe. Zugehörigkeiten werden neu interpretiert und erscheinen damit als fluides Konzept. Laut eigenen Angaben repräsentiert ASEM 68% des globalen Welthandels, 60% der Weltpopulation, 65% der globalen Wirtschaft und 75% des globalen Tourismus. Trotz seiner interregionalen Begrenztheit passt ASEM mit diesem Ausmaß und den Ambitionen mitzugestalten, unumstritten zu dem Konzept eines multilateralen Forums.
Das abgesteckte Ziel dieses Formats ist es, neue Handlungs- und Möglichkeitsräume für verbesserte Asien-Europa Beziehungen auszuloten. Es möchte als „Katalysator“ für asiatisch-europäische Beziehungen dienen. Entsprechend arbeitet ASEM mit dem bereits Vorhandenen, beschleunigt – so die Ambition – die Vorgänge ohne dabei in den Vordergrund zu treten und wird bei Benutzung nicht selbst verbraucht. Forumsaktivitäten ereignen sich auf verschiedenen Ebenen und bestehen aus Gipfeltreffen (bisher fanden 13 statt, zuletzt 2021), Ministertreffen, Treffen von hohen Beamten und regelmäßigen Dialogveranstaltungen und Initiativen. Vereinfacht lässt sich ASEM als intergouvernementaler Prozess mit Elementen des zivilgesellschaftlichen Austauschs definieren. Wie genau Zusammenarbeit ablaufen soll, unterliegt – ohne institutionellen Strukturvorgaben – einem ständigen Dialog- und Entwicklungsprozess.
Auffallend beim Erstellen der Möglichkeitskarte, die sich in diesem Falle zweckorientiert einem mittleren Maßstab bedient, ist die Gestaltung von Multilateralismus als Prozess und Netzwerk (vgl. „networking-club“). Das Netzwerk ist aufgrund des prozessartigen Charakters beweglich und flexibel. Es ist räumlich mehrdimensional zu verstehen und erstreckt sich über die Achsen Akteure, Themen und (Einfluss)ebenen.
Gelebte Netzwerksemantik
Dieses Netzwerk legt sich in das dreidimensionale Feld zwischen die Achsen, indem ASEM als Multi-Akteur und Multi-Themen-Plattform – und noch dazu als die zentrale Plattform für europäisch-asiatischen Austausch, also über Regionen hinweg – Verknüpfungsmomente bietet. Es erlaubt, dass durch interne Heterogenität ungewöhnliche Gesprächspartner aufeinandertreffen, Bereiche miteinander verknüpft und Themen in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen besprochen werden. Es spannt verschiedene Akteure ein, die im besten Fall „cross-track“ kommunizieren. Das Netzwerk ist dabei immer in Bewegung: Akteure kommen hinzu oder wechseln ihre Position; die unterschiedlichen Themen werden je nach Weltlage ins Zentrum gerückt und fokussiert betrachtet.
Im Mehrebenensystem des globalen Regierens nimmt ASEM eine „neuartige policy-Ebene“ ein, denn es lässt sich als spezielle Form des (neuen) Interregionalismus fassen. Vor- oder Zuarbeiten für andere Ebenen, Stärkung der Interregionalität und regionale Integration – (Mit)Gestaltung nach nicht-militärischer Art – werden auf dieser Zwischenebene verortet. Es ist in erster Linie eine Plattform für Meinungsaustausch, Interessensabsprachen und Lösungssuche, ohne vertraglich bindenden Ergebnisanspruch als Forum.
Die gelebte Netzwerksemantik soll vertrauensaufbauend und fragmentierungsabbauend wirken. ASEM ist als Plattform weder Akteur noch direkter Ergebnislieferant, sondern tritt als „Enabler“ von Zusammenarbeit mit symbolischem Wert und Nutzen auf. Aus theoretischer Perspektive ist ASEM eine sinnvolle Ergänzung im globalen Ordnungssystem. In der Praxis richtig eingesetzt, erleichtert das Forum strategische Partnerschaften und kann zum „policy tool“ werden.
Dabei gilt zu beachten, dass ASEM „nur“ ein kleiner Ausschnitt eines großen Netzwerks von Beziehungen und Interaktionen ist. Es bildet eine Feinstruktur, aber ohne Verbindungen über sich hinaus – sei es durch internationale Regeln und Normen, nationale Strukturen oder Kooperationspartner und ihre Umsetzungsbestrebungen – findet das Forum keinen Halt und keine Position in der Grobstruktur des umfassenden Mehrebenensystems, dass unsere Welt strukturiert. Flexibilität durch den zugrunde liegenden informellen und prozessartigen Funktionsmechanismus ermöglicht jedoch Anpassungsleistungen, die ein eher statisches Gebilde mit festgelegtem Prozedere in diesem Maße nicht erfüllen kann.
In der Praxis herrscht weiterhin die Notwendigkeit zur Präzisierung. Gerade der Aspekt „Ergebnislosigkeit“ – sicherlich ein berechtigter Kritikpunkt auch wenn die Bewertung im Einzelnen durch fehlende Transparenz und Daten schwierig ist – wiegt schwer. Grundsätzlich lässt sich über folgende Frage streiten: Kann sich ein Forum allein als „Enabler“ rechtfertigen oder benötigt es klare Ergebnisse und sichtbare kollektive Handlungen, um für den weitergedachten Multilateralismus bestehen zu können?
Thematische Mehrdimensionalität – praxisnah aber zu komplex?
Die drei Themenfelder ASEMs – das Politische, das Wirtschaftliche und das Soziale – zeugen von dessen Multidimensionalität. Die drei Bereiche, die in der Theorie gern als einzelne Felder betrachtet werden, sind in der Praxis eng miteinander verwoben und müssen gerade in Anbetracht großer Herausforderungen (etwa Klimaschutz, globale Sicherheit) als stark interdependent begriffen und deshalb zusammengedacht werden. ASEM beweist mit einem solchen Verständnis große Praxisnähe. Das Forum hat die Notwendigkeit erkannt, in (inter)regionalen Interaktionsräumen zusätzlich zu nationalen und globalen Räumen zu kommunizieren und auch auf dieser Ebene nach Mitteln und Wegen zu suchen. Multilaterale Beziehungen sollen innerhalb dieser Multidimensionalität gestärkt werden.
Allerdings nimmt mit dieser Vorstellung die Komplexität des zu Bewältigenden zu. Die Themenvielfalt ist realitätsgetreu, zugleich aber unübersichtlich und für konkretes Output zu vielfältig und oberflächlich. Das Forum steht sich demnach selbst im Weg, progressive Ergebnisse zu liefern. Zuspitzungen und klarere Vorgaben würden überschaubarer, zielorientierter und damit arbeitserleichternder wirken.
Momentum eines Buzzwords
Bereits sprachliche Anpassungen ermöglichen kreatives Weitergestalten. Die Namensgebung, Festlegung und Kommunikation neuer, zentraler Begrifflichkeiten und ihrer konzeptionellen Grundlage schaffen neue Netzwerkknoten und entfachen mit dieser engeren Verkoppelung neue Dynamiken. Im Falle ASEMs lässt sich dies anhand des Connectivity-Begriffs nachzeichnen, welcher von der eigens dazu mandatierten ASEM Pathfinder Group on Connectivity (APGC) erarbeitet und 2017 vorgestellt wurde. Dessen Definition vom Zusammenbringen von Ländern, Menschen und Gesellschaften stellt keine große Policy-Verschiebung in der Geschichte ASEMs dar – um das Herstellen von Verbindungen zwischen den Regionen ging es seit der Gründung ASEMs. Die Aufwendung zusätzlicher Ressourcen bleibt also wegen der Einbettung des Begriffs in die vorherrschenden Strukturen größtenteils aus und trotzdem erlebt das Forum anhand des Buzzwords ein (unterschiedlich einzuschätzendes) Erwachen. Konferenzen (die AESCON 2020 & 2022), die Entwicklung neuer Arbeitsleitinstrumente (TACC), die Etablierung einer öffentlich zugänglichen Datensammlung zur interregionalen nachhaltigen Konnektivität und diverse Publikationen folgten. Passend zu den aktuellen Debatten orientiert sich der Begriff stark am Nachhaltigkeitsgedanken, der nun im ASEM Dialog zentrierter auftritt.
Das Wissen um und die Bündelung von solch freigesetzten Energien durch klare Konzeptbenennung lassen sich produktiv – als motivierendes Moment – für Handlungsketten nutzen. Dazu benötigt es den richtigen Begriff. Konnektivität beinhaltet sowohl das aktive „sich verbinden“ als auch das passive miteinander „verbunden sein“. Es fordert das Abstecken neuer Sphären und baut gleichermaßen auf vorherrschende Strukturen auf. Für den Blick auf ASEM als „Multilateralismus-Labor“ ein konzeptioneller Glücksgriff, da es vergangene Versuche der Zusammenarbeit protokolliert und neue Versuchsideen der Kollaboration anzustoßen und aufzubauen vermag. Konnektivität, interpretiert als sich miteinander verbinden, schafft multilaterale Handlungsmöglichkeiten durch das gegenseitige Kennenlernen und die gemeinsame Interessensfindung. In einer sich ständig verändernden Welt sind diese Aspekte wichtige Grundbausteine für gemeinsame, nachhaltige Entwicklung.
Vermehrte Aktivität innerhalb des ASEM-Gefüges ließe sich mit Einführung des Konnektivitätskonzepts feststellen, so das Urteil 2021 von Prakash und van der Putten. Allerdings fehle es an handfesten Beweisen, dass diese Veranstaltungen einen zentralen Beitrag zur Förderung von Konnektivität in den Regionen leisten. Besonders schwer wiege die temporale Dimension eines Momentums. Die ausgelöste Aktivitätskurve hätte ihren Zenit längst überschritten und die initiale Motivation, die auf die Begriffseinführung folgte, flache ab.
Dynamische Anpassungen erforderlich
Stetige Anpassung sorgt dafür, dass ein Format relevant bleibt. ASEM mit seiner Netzwerkstruktur ist geeignet, Anpassungen flexibel vorzunehmen, benötigt jedoch das konstante Bemühen um Initiativen, die den Prozess weiter vorantreiben. Die Beziehungen innerhalb eines Netzwerks benötigen ein Maß an Pflege, um nicht einzugehen. Sowohl Prozess als auch Netzwerk befinden sich entsprechend in ständiger Bedrohung, wenn Akteure ihre Bemühungen hinsichtlich der Zusammenarbeit einstellen.
Doch auch wenn – oder gerade weil – der reibungslose Ablauf ASEMs in der Praxis nicht funktioniert, erlaubt das Forum als Fallbeispiel eine Karte mit zahlreichen Wegen des Multilateralismus- und Forumverständnisses etwa als Netzwerk und Prozess oder Katalysator, Abzweigungen wie beispielsweise die Neuinterpretation von Regionalität oder das Einsetzen eines rhetorischen Begriffs (Connectivity) sowie Höhen und Tiefen der Funktionstüchtigkeit aufzuzeichnen. Erleichtert wird dies durch das Begreifen ASEMs als „Multilateralismus-Labor“, bei dem man sowohl aus erfolgreichen als auch erfolglosen Versuchen Schlüsse über multilaterale Möglichkeiten ziehen kann. Dieser erste Kartenentwurf steckt bereits umfangreiche Möglichkeiten ab, die sich anschließend in zwei Bereichen nutzen lassen, um ASEM oder multilaterale Formate im Allgemeinen weiterzudenken.
ASEMs Ansätze, so an der Karte abzulesen, weisen Stärken des zwischenstaatlichen Vertrauensaufbaus und derZusammenarbeit auf, die allerdings noch deutlich gesteigert werden könnten. Die vertikalen Begegnungsstätten etwa ließen sich ausbauen, um wechselseitiges Lernen künftig auf produktivere Weise zu nutzen. Insbesondere die Ergebnisse zwischenmenschlichen Austauschs sollten „cross-track“ im politischen Feld größere Relevanz erfahren, damit Themen regional besser zugeschnitten und an die konkreten sozialen Bedürfnisse angepasst werden. Hier anschließend sollte an dem (digitalen) Forumgedächtnis (anknüpfend an das ASEM Info Board oder Sustainable Connectivity Portal) weitergebaut werden, damit interregionale Koordination, Transparenz und Lerneffekte (trotz Beibehaltung der Informalität) steigen. Allgemein gehaltene Gipfeldokumente hingegen als sichtbarer Output auf höchster Ebene sorgen eher für Unmut und sollten künftig unterlassen werden, denn sie sind vor allem eins: „strong in rhetoric but weak in substance“. Von rhetorischer Leistung sollte wiederum woanders Gebrauch gemacht werden: Das motivierende Moment des Konnektivitätsbegriffs liegt vor allem in seiner konzeptionellen Stärke für dynamisches Neuinterpretieren. Allerdings müsste man dieses Momentum erneut mit passenden Initiativen und Veranstaltungen aufleben lassen oder auf die Suche eines neuen rhetorischen Anstoßes gehen. In jedem Fall helfen Begriffe und Konzepte Forumsfatigue zu vermeiden.
Darüber hinaus zeigt die Karte auf, welche zusätzlichen Räume sich zwischen einer globalen und nationalen Ebene eröffnen und wie diese ganz konkret – beispielsweise informell, multidimensional und offen – ausgestaltet werden können. Die Lehren aus ASEM sollten als Model für geographisch anders verorteten Austausch dienen. So könnten produktive Strukturen wie das Prinzip der offenen Begegnungsstätte übernommen und unproduktive Strukturen wie beispielsweise Themenüberladung, ausbleibende Anschlussveranstaltungen oder fehlende Transparenz vermieden werden.
Formate als Labore zu betrachten, die neue Möglichkeiten hervorbringen und ausprobieren, fördern das lebhafte Weiterdenken von Multilateralismus und Ordnungsprinzipien. Gerade in Verschiebungsprozessen internationaler Zusammenarbeit ergeben sich vereinzelt neue und gleichermaßen beständig erscheinende Formate, die sich zugleich aus den Veränderungsdynamiken herausbilden und somit (könnte man annehmen) „angepasste“ Strukturen aufzeigen und selbst Gestaltungswille mitbringen und deshalb für die Weiterentwicklung der internationalen Zusammenarbeit insgesamt eine Rolle spielen.