Multilateralismus-Debatten im Schatten von Weltordnungskontroversen: Globaler Multilateralismus statt Multipolaritätsvisionen


Im globalen Wettbewerb um Deutungshoheit und Ordnungsmacht rückt der Multilateralismus ins Zentrum nicht nur deutscher und amerikanischer, sondern auch chinesischer Außenpolitik. Dabei setzt China geschickt zentrale Bausteine bestehender westlicher Ordnungsdebatten und Narrativen rund um Demokratie und Multilateralismus ein, um eigene Schwerpunkte zu setzen und den „wahren Multilateralismus“ für sich in Beschlag zu nehmen. Die vielschichtigen Bedeutungszuschreibungen und die sich wandelnden Interpretationen des Multilateralismus-Begriffs zu erkennen, erfordert eine genaue Beobachtung der innerchinesischen Diskurse rund um die internationale Ordnung. Denn andernfalls, so Nele Noesselt, laufen die transatlantischen Initiativen zur Aufrechterhaltung einer liberalen Weltordnung Gefahr, alternative Ordnungsideen zu spät zu erkennen – und damit auf Fragmentierungs- und Erosionserscheinungen innerhalb bestehender globaler, multilateraler Institutionen nicht angemessen reagieren zu können.

Nele Noesselt ist Professorin für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt China/Ostasien an der Universität Duisburg-Essen. 



Das Konzept des Multilateralismus ist in den vergangenen Jahren zu einem begehrten Objekt in den strategischen außenpolitischen Positionserklärungen insbesondere von jenen Staaten avanciert, die sich als Mitgestalter der globalen Ordnung verstehen. In diesen strategischen Rollen- und Positionsartikulationen wird Multilateralismus nicht allein strukturell als ein Format der Interaktionen zwischen mehreren Akteuren verstanden. Vielmehr werden multilaterale Verhandlungsformate und Institutionen als regel- und normbasierte Netzwerke imaginiert.

Wer sich an diesen beteiligt, hat den bestehenden acquis communautaire anzuerkennen. Wer aber neue multilaterale Formate ins Leben ruft oder aber an der Reform bestehender Institutionen mitwirkt, verfügt über Möglichkeiten der Regelsetzung und Regelauslegung. Hatte die VR China zunächst den Fokus auf bilaterale Formate gelegt, zeichnet sich insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre ein verstärktes Interesse an der Kooperation mit regionalen multilateralen Formaten – wie den ASEAN oder den Regionalorganisationen in Lateinamerika (UNASUR/PROSUR, CELAC) ab. Unter Xi Jinping sind zudem neue multilaterale Institutionen wie die Asiatische Infrastruktur-Investment Bank (AIIB) [1] und die Neue Entwicklungsbank (New Development Bank, NDB) [3] der BRICS -Gruppe [3] initiiert worden. Die VR China bewegt sich zunehmend selbstsicher auf dem internationalen Parkett und ist sich ihrer gewachsenen ökonomischen und monetären Macht sichtbar bewußt. Und setzt darauf, dieses Kapital in Mitspracherechte zu konvertieren. Denn weder die Ideen für eine Reform der Vereinten Nationen (VN) oder jene für eine Umverteilung von Stimmrechten in den Bretton-Woods-Organisationen (IWF, Weltbank) noch die von China initiierten Banken (AIIB, NDB) stehen für eine alternative Ordnung, die dem bisherigen Institutionengefüge diametral entgegenstehen würde. [4] Peking geht es um die symbolische Anerkennung als gleichberechtigter Partner und um Mitgestaltungsrechte. Und darum, unipolaren Ordnungen – assoziiert mit der globalen Führungsrolle der USA – entgegenzutreten.

2021 veröffentlichte die chinesische Fachzeitschrift Guoji Zhanwang 国际展望 (Global Outlook) eine Zusammenfassung eines innerchinesischen Roundtables zu Weltordnungsmodellen im 21. Jahrhundert. [5] Diese dokumentierte nicht nur die – aus chinesischer Sicht – verzerrten globalen Rollenzuschreibungen gegenüber der VR China durch die USA und kontrastierte diese mit den Rollenentwürfen der chinesischen Seite. Sondern hielt auch fest, daß sich die Welt momentan in einer Phase der Neuordnung und Neuausrichtung befinde. Die im Zuge dieser Kontemplationen zu Weltordnungsvisionen formulierten Ideen operierten nicht primär mit Termini der vormodernen chinesischen Staatsphilosophie oder maoistischen Weltordnungsformeln (Zwischenzonentheorie, Drei-Welten-Theorie), sondern konzentrierten sich auf die Formel des Multilateralismus. Dies mag auf den ersten Blick überraschen. Denn die Zauberformel, mittels derer Peking Mitstreiter für sein Weltmodell zu gewinnen versucht hatte, war zunächst die Vision einer multipolaren Welt gewesen. Diese Vision in die Realität umzusetzen, wurde als zentrales Ziel in strategischen Partnerschaftsbekundungen – so beispielsweise, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, mit Rußland [6] – verankert. In der Zusammenfassung der Roundtable-Diskussion 2021 finden sich 36 Verweise auf das Konzept des Multilateralismus, für den Begriff der Multipolarität hingegen nicht ein einziger Treffer.

Über die vergangenen Dekaden hinweg artikulierte die VR China immer wieder ihre Kritik an einer unipolaren Machtkonzentration in den Händen der USA, und sie formulierte alternative Ordnungs- und Herrschaftsmodelle. Vorgestellt wurden diese zumeist im Rahmen offizieller Rede anläßlich zentraler Jahrestage der Vereinten Nationen. Mit dem Konzept der „Harmonischen Welt“ (和谐世界) kritisierte die VR China die Global Governance-Konzepte des „Westens“ und präsentierte ein Modell des globalen Friedens und der globalen Entwicklung; mit dem „Friedlichen Aufstieg“ (和平崛起) konterte sie neorealistische Chinaanalysen, die einen unvermeidlichen Konflikt zwischen den alten Machtzentren und der aufsteigenden VR China prognostizierten. [7] Allerdings wiesen diese „chinesischen“ Konzepte wenig Strahlkraft aus und wurden weithin als strategische Narrative der chinesischen Außenpolitik eingestuft, nicht jedoch als potentiell universelle Weltordnungsideen. [8] Die chinesische Führung und ihre Beratungszirkel haben die negativen Reaktionen des Auslands auf diese Konzepte mitverfolgt. Unter der fünften Führungsgeneration sind an die Stelle von Konzepten, die vermeintliche Bezüge zur vormodernen chinesischen Staatsphilosophie aufwiesen – und sich primär an ein chinesisches Zielpublikum richten, dem hierüber eine historisch-kulturelle Kontinuität der chinesischen Außenpolitik suggeriert wird [9] – verstärkt Termini getreten, die der „internationalen“ Politdebatte entlehnt sind. Allerdings werden diese Kerntermini der internationalen Politdebatten nicht unreflektiert übernommen, sondern vielmehr modifiziert und mit neuen Inhalten gefüllt. Oft geschieht dies unsichtbar, indem zwar eine „chinesische“ Definition des Begriffs vorliegt, diese jedoch bei der Verwendung des Terminus in außenpolitischen Stellungnahmen nicht verbalisiert wird. Dieser Übergang zu „universellen“ Termini steht an Ende eines längeren Lernprozesses, den Alastair Iain Johnston in seiner Studie zu Chinas Agieren in internationalen Organisationen in den Jahren 1980 bis 2000 als Stufenprozeß beschreibt. Johnston illustriert dabei, wie sich Peking langsam aus der Rolle des eher passiven Beobachters hin zu einem aktiven Mitspieler entwickelt hat. [10]

Krisen wie die Banken- und Finanzkrise in den USA und Teilen des Euro-Raumes nahm die chinesische Seite zum Anlaß, das „westliche“ Modell des Kapitalismus für gescheitert zu erklären. [11] Diese Kritik wurde nicht ideologisch begründet, sondern als faktenbasierte Realität präsentiert. Auch in anderen Bereichen attestierte die chinesische Seite dem „Westen“, personifiziert durch die USA, einen Widerspruch zwischen Theorie und gelebter Praxis. Beispielsweise prangerte die VR China wiederholt an, daß das hehre Ideal der Demokratie bislang nicht auf die internationalen Beziehungen angewandt worden und die Weltpolitik von hegemonialen Machtstrukturen geprägt sei. Jüngster Gegenstand des verbalen Schlagabtausches ist das Konzept des Multilateralismus. Mit der Formel des „wahren Multilateralismus“ (真正的多边主义) artikuliert Peking seine Kritik an der US-amerikanischen Weltpolitik und postuliert, daß die USA mit der Formel der multipolaren (regelbasierten) Ordnung nur ihre partikularen Machtinteressen zu kaschieren versuchten. Die Weltordnungsmodelle der VR China hingegen seien dem Grundgedanken eines inklusiven, gleichberechtigen Multilateralismus verpflichtet.

Eine “echten Multilateralismus” anzustreben, diese Formulierung verwendete der chinesische Außenminister Wang Yi nicht nur in seinen Keynotes auf Tagungen und Workshops chinesischer Universitäten und Think Tanks, [12] sondern auch in seinen Stellungnahmen während des chinesischen Vorsitzes des UN-Sicherheitsrates im Jahr 2020. [13] Er stellte damit die chinesische Theorie und realpolitische Praxis in multilateralen Kooperationskontexten plakativ dem gelebten “unilateral bullying” anderer Akteure – die USA nicht direkt benennend – entgegen.

Ringen um Deutungs- und Regelsetzungsmacht im 21. Jahrhundert

Mit den Präsidentschaftswahlen in den USA im November 2020 und der Inauguration der Biden-Administration hat sich der symbolische Wettbewerb zwischen Washington und Peking um die globale Deutungs- und Gestaltungsmacht weiter zugespitzt. Mit der Rückkehr der USA in multilaterale Abkommen wie dem Pariser Protokoll und dem Bekenntnis zur NATO einher geht das Credo, daß es nun gelte, die zwischenzeitlich partiell erschütterte liberale, regelbasierte Weltordnung wieder in ihren Grundfesten zu stabilisieren (building back better world). Im Unterschied zu der von Trump gewählten Strategie der direkten bilateralen Konfrontation mit der VR China setzt Biden auf multilaterale Allianzen mit liberalen Demokratien. Chinesische Kommentatoren klassifizieren dies als „selektiven“ Multilateralismus [14] und betonen, daß die USA nun in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik, wie das Beispiel der QUAD illustriere, mit exklusiven kleinteiligen Netzwerken operierten, die weit entfernt von den Grundprinzipien eines offenen, globalen Multilateralismus seien. So definierte Xi in seiner Rede auf dem (virtuellen) Weltwirtschaftsforum Davos im Januar 2021 [15] den Multilateralismus als auf Konsultationen basierende internationale Politik, bei der alle Akteure (gleichberechtigt) miteinander kooperieren. Damit erteilte er dem von den USA avisierten Decoupling eine formale Absage und betonte, daß ein offenes, multilaterales Welthandelssystem durch die G20 (und damit nicht durch die G7-Staaten) koordiniert werden sollte. Yang Jiechi zitierte diesen Passus in seiner flammenden Rede für den globalen Multilateralismus in Verbindung mit dem Prinzip der Schicksalsgemeinschaft (人类命运共同体), [16] bei dem es sich um ein chinesisches Begriffskonzept handelt, das unter Xi Jinping in die Debatten über die Theorie und Praxis von Global Governance im 21. Jahrhundert eingebracht wurde. Die kurze Geschichte des Multilateralismus, die Yang skizziert, verdeutlicht exemplarisch die selektive Neuinterpretation aus chinesischer Sicht: so setzt er den Beginn des modernen Multilateralismus gleich mit der Gründung der Vereinten Nationen, zeichnet diesen aber auch als fluides, transformatives Konzept mit Querbezügen zum chinesischen Idealmodell der multipolaren Weltordnung.

Die chinesische Multilateralismuskritik reagiert zudem auf das (neorealistische) Szenario einer Aushöhlung und Gefährdung der liberalen, multilateralen, regelbasierten Ordnung durch Autokratien wie die VR China (oder Rußland). Die VR China definiert sich als Verfechterin der einzig wahren Form einer Volksdemokratie und weist jedwede Kritik an ihrem politischen Regime scharf zurück. Mit der Veröffentlichung eines chinesischen Weißbuchs im Dezember 2021 zum Konzept der Demokratie – auf englisch betitelt „China: Democracy that Works“ [17] – tritt die VR China aktiv der westlich-liberalen Konzeption der elektoralen Demokratie entgegen und präsentiert das (chinesische) Ideal einer funktionierenden, prozeduralen Demokratie. Bezeichnet wird diese als eine „den gesamten (Verwaltungs-)Prozeß umfassende Volksdemokratie“. In einer weiteren Stellungnahme, ebenfalls im Dezember 2021 veröffentlicht, kontrastiert die chinesische Seite dieses Idealbild der demokratischen Praxis der VR China mit dem Negativbild der US-amerikanischen Demokratie. [18] Indem sie die US-amerikanische Governance-Praxis als Anti-Demokratie klassifiziert, spricht sie dem Narrativ einer Herausforderung der liberal-demokratischen US-zentrierten Ordnung ebenso wie dem Versuch des Exports dieses „Demokratie“-Modells durch die USA und ihre Verbündeten jedwede Legitimität ab.

Mehr als drei Dekaden nach dem Ende des Kalten Krieges scheint die weltpolitische Debatte in das Denken in alten Blockmustern und Systemantagonismen zurückzufallen. Staaten wie die VR China oder Rußland prangern die Konzeption des „Multilateralismus“ der westlichen Demokratien als selektive Clubbildung an. Die Sanktionierung Rußlands infolge der Krimkrise und die seitdem fortbestehende Rückbesinnung auf das G7-Format [19] wird als Exklusivanspruch der westlichen Industrienationen interpretiert, die Regeln des Welthandels nach ihren Interessen und Wünschen zu gestalten. Die VR China, die weltweit zweitgrößte Wirtschaftsmacht, setzt als Gegengewicht auf den Multilateralismus der G20. [20] Auch dies kein Gremium, das alle Staaten der Welt zu Wort kommen läßt, wohl aber ein Zusammenschluß, bei dem die führenden Wirtschaftsmächte des Globalen Südens mit am Verhandlungstisch sitzen. Jedoch zeichnete sich im Schatten der globalen Pandemie eine Verschiebung in Pekings Außendiplomatie ab. Ob diese den chinesischen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus und entsprechenden Reisebeschränkungen geschuldet war oder aber eine generelle Kehrtwende in der chinesischen Außenpolitik markiert, bleibt abzuwarten. Der chinesische Staatspräsident (ebenso wie sein russischer Kollege Vladimir Putin) reiste 2021 nicht zum G20-Gipfel in Rom (Oktober 2021), und er nahm auch nicht an der 26. Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP26) teil, die vom 31. Oktober bis zum 12. November 2021 in Glasgow stattfand. Die Teilnahme am G20-Treffen erfolgte als Videozuschaltung, wobei Xi in seiner Rede das Prinzip des „wahren Multilateralismus“ betonte und unterstrich, daß die G20 an dem Grundprinzip eines offenen, multilateralen Welthandelssystems festhalten sollten. [21] Die (chinesische) Formel des „wahren Multilateralismus“ findet unmittelbar vor dem durch Xi Jinping geprägten Slogan der „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ Erwähnung, wodurch sich erahnen läßt, daß beide Konzepte stellvertretend für eine Reform der bestehenden Weltordnung nach chinesischem Bauplan stehen könnten.

Zu COP26 erfolgte eine offizielle Positionierung über eine schriftliche Erklärung des chinesischen Präsidenten, die auf der offiziellen Konferenzseite veröffentlicht wurde. Diese enthält einen kurzen Passus, daß die globalen Klimaziele nur über einen „multilateralen Konsens“ erreicht werden könnten. [22] Diese Stellungnahme verweist zwar auf Chinas Vorstöße, neue Maßnahmen im Bereich Umwelt- und Klimaschutz umzusetzen, operiert jedoch nicht primär mit chinesischen Weltordnungstermini. Betont wird die Komplementarität zwischen chinesischer Reformpolitik und globalen Zielvorgaben. Der eigentliche Konsens, den die chinesische Delegation auf der COP26 veröffentlichte, war jedoch eine gemeinsame, d.h. bilaterale Erklärung, der amerikanischen und der chinesischen Seite zum Klimaschutz. [23]

Klimaschutz wie auch nukleare Sicherheit sind zwei zentrale Themenfelder, in denen für die USA, wie der China-Analyst und IB-Forscher Thomas Christensen betont, [24] kein Weg an einer Kooperation und wechselseitigen Einbeziehung vorbeiführen wird – ungeachtet aller Erklärungen zum Scheitern – und damit der Einstellung – der amerikanischen Engagement-Strategie. Nicht immer scheint es allerdings zu gelingen, Peking zu verbindlichen Zusagen zu verpflichten. Denn wenngleich Anfang 2022 alle fünf Vetomächte der VN betonten, an den Grundprinzipien des Atomwaffensperrvertrags festzuhalten, kündigte die VR China doch zugleich an, ihre Kernwaffen weiter modernisieren zu wollen. [25] Auch die Einbeziehung der VR China in neue Rüstungskontrollabkommen gestaltet sich alles andere als einfach.

Trotz aller Bemühungen um eine (oft bilaterale) Einbindung der VR China – auch nach dem erklärten Scheitern der US-amerikanischen Engagement-Politik – bleibt seitens der USA und ihrer demokratischen Partner die Skepsis groß, inwiefern Peking nicht doch versuchen könnte, über multilaterale Formate „chinesische“ Prinzipien global zu verankern. Für besondere Unruhe sorgte 2021 die Gründung der „Group of Friends in Defense of the Charter of the United Nations“, der derzeit 19 mehrheitlich nicht-demokratische Staaten angehören, darunter u.a. die VR China, Rußland und Nordkorea. Bereits 1971 war der ständige Sitz Chinas im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) der Republik China aberkannt und an die VR China übertragen worden. Die VR China unterstreicht immer wieder in ihren Positionspapieren die zentrale Bedeutung, die den VN für die Lösung weltpolitischer Fragen zukommt. Und sie beteiligt sich aktiv an den Ausschüssen und Arbeitskreisen der VN – wie dem Internationalen Seegerichtshof und dem Menschenrechtsrat. Chinakritische Beobachter warnen in Anbetracht der fortbestehenden Streitigkeiten im Südchinesischen Meer und der Kontroversen über die chinesische Menschenrechtspolitik im eigenen Land vor einer graduellen Einbettung chinesischer Ordnungsvorstellungen in die Arbeitsabläufe der VN und einer unbemerkt erfolgenden Unterminierung der universellen Menschenrechte. Die chinesische Seite stellt die VN nicht in ihrer Existenzberechtigung in Frage, sie fordert allerdings generell eine Reform der internationalen Institutionenordnung und eine Stärkung der Mitspracherechte der Staaten des sogenannten Globalen Südens. Bereits in der Mao-Ära hatte die VR China sich im Zuge der chinesischen Drei-Welten-Theorie als Advokatin der Interessen eben dieser Staatengruppe positioniert. Mit dem Konzept der Süd-Süd-Kooperation und neuen Allianzen zur Verteidigung der VN-Charta und des „wahren Multilateralismus“ knüpft sie symbolisch an diesen Anspruch an. Und sie hält an der oben skizzierten Strategie fest, nicht mit alternativen Ordnungskonzepten zu operieren, sondern die Inhalte etablierter Schlüsselkonzepte neu zu definieren. Oder, so das chinesische Narrativ, die ursprünglichen Inhalte dieser Konzepte zu wahren und die unter falscher Multilateralismus-Flagge segelnde Welt wieder auf Kurs zu bringen.

Transatlantischer Konsens in einer fragmentierten Welt?

Nicht nur die USA, auch ihre transatlantischen Partner reagieren auf die perzipierte Herausforderung durch eine global immer präsenter werdende VR China: Der Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition versprach eine Stärkung des Multilateralismus unter besonderem Verweis auf die globale Koordination über die Welthandelsorganisation und die Vereinten Nationen. Erklärtes Ziel dabei ist die Orientierung an Umwelt- und Sozialstandards, die nicht unilateral, sondern im Rahmen der transatlantischen Partnerschaft gemeinsam global fixiert werden sollen. Das Prinzip der multilateralen Kooperation wird insbesondere im Kontext globaler Klimaschutzpolitik (Stichwort Agenda 2030, Pariser Abkommen) betont; kritisch beäugt wird die perzipierte Herausforderung der multilateralen, regelbasierten Ordnung durch autokratische Staaten, der die Koalitionspartner mit der Allianz der Demokratien und der Allianz für Multilateralismus entgegenzutreten planen. Das Prinzip des Multilateralismus wird in dieser Erklärung offensichtlich in zwei Bedeutungskonnotationen verwendet. Es steht einerseits für Verhandlungs- und Dialogformate, die mehr als zwei Akteure umfassen – wie die G7 oder die G20. Es wird andererseits aber auch im Zusammenhang mit liberal-demokratischen Governance-Prinzipien und Regimetypen erwähnt. Mit Blick auf die VR China wird generell von einer systemischen Rivalität ausgegangen, wenngleich die Erklärung an der EU-Position festhält, die China eine dreifache Rollen-Identität als „Partner, Wettbewerber, Rivale“ zuschreibt. Während betont wird, daß an Kooperationsformaten festgehalten werden soll, unterstreicht das gemeinsame Papier der Ampelkoalition doch zugleich, daß eine transatlantische Abstimmung in der Chinapolitik erforderlich sei und strategische Abhängigkeiten (von China) reduziert werden sollten. [26]

Dies umfaßt auch Bereiche wie das Internet und big data. Während sich auf regionaler Ebene weltweit Zersplitterungs- und Fragmentierungstendenzen abzeichnen (Stichwort „overlapping regionalism“), setzt Peking nicht zuletzt im Zuge seiner Neuen Seidenstraße auf eine grenzübergreifende Standardisierung. Dies betrifft nicht nur die Vereinheitlichung der transkontinentalen Transportinfrastruktur, sondern auch die Setzung globaler Standards entlang der von China proklamierten „digitalen“ Seidenstraße. Bis in die 2030er Jahre plant die VR China, zum Innovationszentrum im Bereich der Künstlichen Intelligenz aufgestiegen zu sein. [27] Smart City-Modelle und KI-basierte Verfahren „made in China“ könnten dann weltweit als der verbindliche Standard gelten – was erklärt, daß sich die Europäische Union nicht nur mit Fragen der ethischen Standardisierung des Internets und von KI beschäftigt, sondern auch neue Kommissionen zu den außen- und geopolitischen Dimensionen von KI eingerichtet hat. Und daß auch in Deutschland über entsprechende Standards im Bereich „ethical AI“ nachgedacht wird.

An die Stelle des alten Systemantagonismus zwischen konkurrierenden Wirtschaftsmodellen während der Zeit des Kalten Krieges ist im 21. Jahrhundert nun ein Wettbewerb zwischen Staaten, die allesamt Spielarten des Kapitalismus aufweisen, um die globale Vormachtstellung getreten. Auch bei diesem Wettbewerb geht es um die Sicherung von Einflußsphären – durch die Etablierung der Kernelemente des eigenen Modells als globale Orientierungsvorgabe. Peking beruft sich bei seinen Vorstößen beim Auf- und Umbau der globalen Ordnung nicht offiziell auf die Wiedererrichtung einer „alten“ Ordnung mit China als Gravitationszentrum – so imaginiert mit dem philosophisch wiederentdeckten tianxia 天下 als Gegenmodell zu „westlichen“ Weltordnungskonzeptionen [28] –, sondern seziert und re-kodiert zentrale Bausteine der „westlichen“ Ordnungsdebatten. Diese in bestehende Konzepte integrierten „chinesischen“ Ordnungsideen zu erkennen, wird in Zukunft noch mehr als zuvor eine intensive, kontextsensitive Auseinandersetzungen mit den chinesischen Stellungnahmen im Original und die genaue Kenntnis der in China zu diesen Konzepten geführten Diskurse erfordern.


[1]  Ren, Xiao (2016), China as an institution-builder: the case of the AIIB, The Pacific Review, 29:3, 435-442.

[2]  Cooper, Andrew F. (2017), The BRICS’ New Development Bank: Shifting from Material Leverage to Innovative Capacity, Global Policy, 8, 275-284.

[3] BRICS = Brasilien, Rußland, Indien, China, Südafrika

[4]  Ferdinand, Peter/Wang, Jue (2013), China and the IMF: from mimicry towards pragmatic international institutional pluralism, International Affairs, 89:4, 895-910.

[1]  Zhou, Guiyin et al. (2021), 中国与国际秩序笔谈:观念与战略 (China and International Order: Visions and Strategies), 国际展望 (Global Outlook), 1, 16-47.

[6]  Turner, Susan (2009), Russia, China and a Multipolar Order: The Danger of the Undefined, Asian Perspective, 33:1, 159-84.

[7]  Noesselt, Nele (2010), Alternative Weltordnungsmodelle? IB-Diskurse in China. Wiesbaden: Springer VS.

[8]  Glaser, Bonnie S./Medeiros Evan S. (2007), The Changing Ecology of Foreign Policy-Making in China: The Ascension and Demise of the Theory of ‘Peaceful Rise’, The China Quarterly, 190, 291–310.

[9]  Yan, Xuetong (2011), Ancient Chinese Thought, Modern Chinese Power. Princeton: Princeton UP.

[10]  Johnston, Alastair Iain (2008), Social States: China in International Institutions, 1980-2000. Princeton: Princeton UP.

[11] Wang, Hongying/Rosenau, James N (2009), China and Global Governance, Asian Perspective, 33:3, 5-39.

[12]  Xinhua (2021), Wang urges countries to practice real multilateralism, July 3, https://www.chinadailyhk.com/article/226738.

[13]  China Daily (2021), Wang acclaims power of multilateralism  (by Zhang Minlu), May 10, https://www.chinadailyhk.com/article/166773#Wang-acclaims-power-of-multilateralism.

[14]  Global Times (2021), Doubtful US will embrace real multilateralism, January 26, https://www.globaltimes.cn/page/202101/1214045.shtml.

[15] Xi, Jinping (2021), Let the Torch of Multilateralism Light up Humanity’s Way Forward (Special Address by H.E. Xi Jinping at the World Economic Forum Virtual Event of the Davos), Agenda

[16]   China Daily (2021), Firmly Uphold and Practice Multilateralism and Build a Community with a Shared Future for Mankind

[17]  State Council of the PRC (2021), China: Democracy That Works, December 4

[18]  Ministry of Foreign Affairs of the PRC (2021), The State of Democracy in the United States, December 5

[19]  1998 hatten die sieben führenden Wirtschaftsnationen Rußland offiziell in ihre Reihen aufgenommen, so daß die Treffen bis 2014 in einem G8-Format stattgefunden hatten.

[20]  Kirton, John J. (2016), China’s G20 Leadership. London; New York: Routledge.

[21]  Xinhua (2021), Full text: Remarks by Xi Jinping at Session I of the 16th G20 Leaders’ Summit, October 30

[22]  Das Dokument (in chinesischer und englischer Fassung) ist online abrufbar unter: https://unfccc.int/sites/default/files/resource/CHINA_cop26cmp16cma3_HLS-WLS-cn.pdf

[23]  US Department of State (2021), U.S.-China Joint Glasgow Declaration on Enhancing Climate Action in the 2020s

[24]  Christensen, Thomas (2021), US-China Relations in a Post-Covid-19 World (conversation with Jeenho Hahm), October 2021

[25]  China Daily (2022), Ministry dismisses claims of nuclear capabilities, January 5

[26] Das Dokument ist online abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/downloads/27829944/1/koalitionsvertrag-ampel-2021-2025.pdf

[27]  国务院关于印发新一代人工智能发展规划的通知, http://www.gov.cn/zhengce/content/2017-07/20/content_5211996.htm.

[27]  赵汀阳 (2005), 天下体系: 世界制度哲学导论. 江苏教育出版社.

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