Biden, EUropa und das Management des strategischen Rechtecks mit Russland und China


Trotz anhaltender politischer Differenzen haben die ersten 100 Tage der Biden-Administration gezeigt, dass die erhofften atmosphärischen Verbesserungen der transatlantischen Beziehungen eingetreten sind. Gleichzeitig sieht sich ein wieder stärker gemeinsam agierender Westen machtvoll auftretenden aufsteigenden und absteigenden autoritären Mächten gegenüber. Die Analyse der Beziehungen zwischen den USA, EUropa, China und Russland unter dem Blickwinkel eines „strategischen Rechtecks“ ist hier vielversprechend, weil so Chancen und potenzielle Stolpersteine für eine gemeinsame Strategieentwicklung des Westens identifiziert werden können.



Die ersten 100 Tage der Biden-Regierung lassen aufatmen – weltweit, insbesondere aber unter den Verbündeten der USA in Europa und Asien. Angesichts der Alternative von vier weiteren Jahren Donald Trump ist dies keine Kleinigkeit. Ob die neue Sauerstoffzufuhr in den kommenden Jahren strategisch genutzt wird, um die westlichen Bündnisse wiederzubeleben und vorhandene institutionelle Mechanismen der globalen Zusammenarbeit zu erweitern, bleibt allerdings offen. 

Die Flut der 100-Tage-Bewertungen der Biden-Administration hebt die Bedeutung der verbesserten Atmosphäre unter den westlichen Verbündeten zurecht hervor. Auf die Frage, was sich in den deutsch-amerikanischen Beziehungen seit Bidens Amtsantritt verändert habe, sagte Bundesaußenminister Maas vor kurzem, er sei „geneigt zu sagen: eigentlich alles“. Seine nachfolgenden Bemerkungen zeigen allerdings auch, dass Konflikte durchaus bestehen bleiben. Berlin ist nun jedoch wieder in der Lage, Differenzen mit Washington respektvoll, hinter verschlossenen Türen und auf Augenhöhe zu diskutieren. Nach vier Jahren, in denen – in Trumps Welt – Deutschland zum Lieblingsschurkenstaat der USA avanciert zu sein schien, ist dies in der Tat keine marginale Veränderung.  

Koordinierte Diplomatie 

Zwei eng koordinierte Entscheidungen der USA mit ihren Verbündeten in den letzten Wochen haben gezeigt, wie beruhigend die neue Haltung der Biden-Regierung innerhalb der NATO tatsächlich ist – und wie sehr die erneuerte westliche Einheit China und Russland gleichermaßen irritierte: Erstens die Sanktionierung Chinas durch die USA und EU wegen Menschenrechtsverstößen gegen die uigurische Bevölkerung, zweitens die koordinierten Maßnahmen der Verbündeten Washingtons und der NATO gegen Russland aufgrund der Einmischung in die US-Wahlen sowie wegen des russischen Geheimdienstangriffs in der Tschechischen Republik. Da Moskau und Peking in den letzten vier Jahren selten mit einer intelligenten und koordinierten westlichen Diplomatie konfrontiert wurden – im Gegenteil: sie konnten sich fast darauf verlassen, dass die NATO ihr strategisches „divide-et-impera“ Interesse intern selbst besorgen würde –, ist es nicht verwunderlich, dass koordiniertes diplomatisches Vorgehen unter US-Führung jetzt als "selektiver Multilateralismus" dämonisiert wird.

Strategische Neupositionierung der USA

Diese neu gefundene Einheit lässt niemand in den Hauptstädten Europas in der Illusion zurück, dass die kommenden Jahre einfach werden. Die doppelte Botschaft der „Interim National Security Strategic Guidance“ (INSSG) – eine Art vorläufige nationale Sicherheitsstrategie der USA –, die US-Diplomatie zu verbessern und gleichzeitig die US-Außenpolitik zu Hause solider zu verankern, hat bereits die klare Botschaft an die amerikanischen Verbündeten auf der ganzen Welt gesendet, dass von ihnen in Zukunft viel mehr verlangt werden wird als in den letzten vier Jahren. Die kombinierte Wirkung der folgenden drei Aussagen führt dies unmittelbar vor Augen: Wenn es der Biden-Administration tatsächlich gelingen sollte, (a) „kluge und disziplinierte Entscheidungen in Bezug auf unsere Landesverteidigung und den verantwortungsvollen Einsatz unseres Militärs“ zu treffen (INSSG, S. 14); (b) eine "Außenpolitik für die (amerikanische) Mittelschicht" zu realisieren und (c) das übergeordnete strategische Ziel zu erreichen, "ein durchsetzungsfähigeres und autoritäreres China langfristig zu übertreffen" (INSSG, p. 20), werden Amerikas Verbündete, insbesondere diejenigen in Europa, die in den letzten Jahrzehnten privilegiert waren, grundlegende strukturelle Anpassungen vornehmen müssen.

Aus deutscher Sicht verblassen vor diesem Hintergrund selbst stark politisierte bilaterale Streitigkeiten wie Nord Stream 2 oder das Zwei-Prozent-Ziel der NATO, so wichtig sie auch sein mögen. Am Ende des Tages sind es unterschiedliche Auffassungen, mit denen man „offen“ umgeht, die man also intern und in diplomatischen Kommuniqués genauso deutlich wie verbindlich als divergierende Interessen identifiziert und artikuliert, die am Ende aber der Verständigung über gemeinsame strategische Ziele nicht im Weg stehen sollen. Und es sind eben genau diese mittel- und langfristigen Ziele, über die die USA und ihre Verbündeten überhaupt erst ein neues gemeinsames Verständnis entwickeln müssen. Dieser Prozess steht erst am Anfang – und ob er angesichts einiger struktureller Interessendivergenzen erfolgreich bewältigt werden wird, bleibt abzuwarten.

Ein neuer strategischer Ausblick: Das „strategische Rechteck“ USA-EU-CH-R

Genau diese mittel- und langfristigen Ziele müssen die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in den Vordergrund rücken, um ein gemeinsames strategisches Verständnis zu entwickeln. Mehr noch, dies ist eine der wichtigsten Herausforderungen, deren sich beide, USA wie auch EUropa, gegenübersehen. „Westlessness“ abzuwenden – d.h. die graduelle Unterminierung der Kernprinzipien der globalen Ordnung aufzuhalten, die früher als „liberale Weltordnung“ bezeichnet wurde und bei der „der Westen“ das Sagen hatte – wird keine leichte Aufgabe sein, weil genau diese Prinzipien in den letzten zehn Jahren zunehmend in Frage gestellt wurden und damit die Volatilität internationaler Ordnung verstärkt haben. Eine potenziell produktive Methode zur Analyse der Erfolgsaussichten eines erneuerten Westens besteht darin, das strategische Rechteck zwischen den USA (einschließlich Kanadas), EUropa (plus Großbritannien), China und Russland zu untersuchen. Diese Beziehungen als „strategisches Rechtecks“ zu konzeptualisieren, heißt (a) die vier globalen Machtzentren in bilateraler Hinsicht jeweils als „significant others“ füreinander zu begreifen (natürlich mit der Maßgabe, dass die spezifische Bedeutung jedes einzelnen für die je anderen drei unterschiedlich ausfällt) und (b) dass Muster der bündnispolitischen (Neu-)Ausrichtung, des machtpolitischen Wettbewerbs oder der gezielten Konfrontation, in jedem der vier bilateralen Segmente, Auswirkungen auf die jeweils anderen drei Seiten haben und somit die Dynamik im gesamten strategischen Rechteck tangieren wird. Darüber hinaus wird die Entwicklung der bi- und multilateralen Beziehungen und Dynamiken in diesem Rechteck auch erhebliche Auswirkungen auf die globale Ordnung haben.

Die Herausforderung, Bidens Versprechen der „Mit-Führung“ strategisch umzusetzen 

Die Analyse der multilateralen Beziehungen zwischen den USA, EUropa, China und Russland im Kontext eines „strategischen Rechtecks“ kann vor allem unter einem historischen und einem zukunftsorientierten strategischen Blickwinkel produktiv sein, weil sich so möglicherweise Chancen und potenzielle Stolpersteine für eine strategische Anpassung leichter identifizieren lassen. Für die USA und EUropa – sowie für einige weitere globale Akteure, die aufgrund ihrer bündnispolitischen Ausrichtung mit diesen beiden verbunden sind, wie etwa Kanada, Großbritannien, Japan und Australien – ist diese Betrachtungsweise derzeit besonders relevant, da die neue Biden-Administration eine strategische Neuausrichtung der US-Außenpolitik im Vergleich zu ihrem Vorgänger verspricht, einige wichtige Fragen aber noch zu beantworten sind.

In seiner ersten Ansprache vor dem Kongress begann Präsident Biden den außenpolitischen Teil seiner Rede mit einem Hinweis auf seine ersten Kontakte mit 40 Regierungschefs oder Präsidentinnen. Er habe bei diesen Gesprächen „klar gemacht (...), dass Amerika wieder da ist. Und wissen Sie, was sie sagen? Die Antwort, die ich am häufigsten von ihnen höre, ist: ‚Wir sehen, dass Amerika wieder da ist, aber für wie lange?‘" Diese Frage spiegelt in der Tat eine tiefsitzende Skepsis der breiteren Öffentlichkeit vor allem der Verbündeten der USA wider. Bidens Antwort ist für die Verbündeten sicherlich genauso ermutigend und beruhigend wie zahlreiche politische Initiativen seiner Regierung in den ersten 100 Tagen: "Wir müssen nicht nur zeigen, dass wir wieder da sind, sondern dass wir wieder da sind, um zu bleiben und dass wir nicht alleine, ohne Rücksprache, voranschreiten werden. Vielmehr werden wir mit unseren Verbündeten führen.“ Allerdings ist in diesem Kontext auch zu berücksichtigen, dass die Erfahrungen der letzten vier Jahre unmissverständlich zeigten, dass Biden im besten Fall garantieren kann, für weitere 1.360 Tage zu „bleiben“, aber nicht mehr. Zudem besteht die entscheidende Frage darin, was „wieder da sein“ und „nicht alleine“ voranschreiten konkret bedeuten und, mehr noch, wie und wohin Biden „mit den Verbündeten führen“ wird.

Multilateralismus neu erfinden 

Henry Kissinger, einer der erfahrensten und scharfsinnigsten Beobachter der US-Außenpolitik und Weltpolitik, erinnerte das Biden-Team und die EUropäischen Verbündeten vor einigen Tagen in einem Interview mit dem „Economist“ daran, dass derzeit konzeptionell-strategisches Denken und bündnispolitische Koordination erforderlich sind, wenn Ankündigungen wie jene Bidens auch Realität werden sollen. Dies gilt umso mehr dann, wenn die Biden-Administration in der alltäglichen diplomatischen Praxis tatsächlich eine operative Definition dessen entwickeln sollte, was es konkret bedeutet, „mit den Verbündeten zu führen“. „Mit-Führung“ ist nämlich kein Führungskonzept, mit dem Amerika bisher besonders viel praktische Erfahrung gesammelt hat oder sammeln wollte. Vielmehr sind die Verbündete eher an verschiedene Versionen eines ad hoc Multilateralismus oder sogar an Übersetzungen des Multilateralismus als „Koalitionen der Willigen“ gewöhnt, bei denen die USA „die Mission“ bestimmen und „willige“ Verbündete sich der Koalition ohne allzu weitreichende „Mit-Führungsansprüche“ anschließen. Im Blick auf den erwarteten Wettbewerb mit China ist beispielsweise hier und da ein gewisser Rückgriff auf das konzeptionelle Vokabular der Bipolarität des Kalten Krieges nicht zu übersehen. Wie Kissinger die Entscheidungsträger in Washington und anderswo allerdings erinnerte, ist eine wie auch immer geartete „Verständigung“ über grundlegende Verhaltensprinzipien („basic principles of conduct“) sowie über die „Grundstruktur der Beziehungsgestaltung“ mit China und Russland überfällig.

Lehren aus dem Kalten Krieg 

Analogien zum Kalten Krieg sind in diesem Kontext insofern aufschlussreich, als sie dabei helfen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede leichter zu identifizieren. Eine Ähnlichkeit zwischen damals und heute ist sicherlich eine Tendenz zur Bipolarisierung, d.h. dass sich die beiden dominierenden Mächte des gegenwärtigen internationalen Systems, China und USA, zunehmend wechselseitig als die zentralen und langfristigen Rivalen identifizieren – sei es, dass sie dies bereits als Realität der Gegenwart oder als unausweichliche zukünftige Entwicklung wahrnehmen. Diese Perspektive in Bezug auf Gegenwart und Zukunft wird in traditionellen „realistischen“ Analysen üblicherweise als Status-Quo-Orientierung (hier USA) oder „Revisionismus“ (hier China) bezeichnet. Im Sinne einer solchen Bipolarisierung bedarf es daher einer zusätzlichen Begründung, wenn hier von einem „strategischen Rechteck“ aus vier wechselseitigen „significant others“ gesprochen wird.

Ein Hauptargument dafür ist, dass die „Peripherie“ der alten Bipolarität des Kalten Krieges im strukturellen Sinne deutlich marginaler war als die heutige Peripherie einer amerikanisch-chinesischen Bipolarität. Osteuropa und Westeuropa waren nach dem 2. Weltkrieg in den Kern des „Ost-West-Konflikts“ zwischen der Sowjetunion und den USA fest eingebunden. Welche Akteure für den Warschauer Pakt und für die NATO in Bezug auf potenzielle „significant others“ im Weltmaßstab übrig blieb, entschied sich zumeist, abseits zu stehen: einige (wie das maoistische China) waren voll und ganz mit sich selbst beschäftigt, andere schlossen sich zu einer „Blockfreien Bewegung“ zusammen, um im globalen Zentralkonflikt neutral zu bleiben (wie Indien) oder waren (wie Japan) von der Rivalität des Ost-West-Konflikts auf dem europäischen „Schauplatz“ nur am Rande betroffen. Die Sowjets und Amerikaner konnten sich weitgehend mit der begrenzten Unterstützung zufrieden geben, die sie von diesen Akteuren jeweils mobilisieren konnten, bzw. mit der begrenzten Irritation leben, die diese Akteure global für sie verursachten.

Die neue Dynamik „rechteckiger“ Strategieentwicklung

Die heutige globale Konstellation ist weit entfernt von einer weltpolitisch dominanten, bipolaren Konstellation zwischen Kern und Peripherie wie zu Zeiten des Kalten Kriegs. Wie Ivan Krastev kürzlich feststellte, ist EUropa möglicherweise dabei, seine strategische Position mit Japan zu tauschen. Im Gegensatz zu Japan im Kalten Krieg ist EUropa heute jedoch nicht so stark innenpolitisch fixiert (vgl. etwa die EU-„Nachbarschaftspolitik“), nicht gleichermaßen ausschließlich auf territoriale nationale Verteidigung ausgerichtet (vgl. diverse GSVP-Missionen) und entsprechend in seinen regionalen und globalen Ambitionen nicht gleichermaßen „antimilitaristisch“. Darüber hinaus können weder die USA noch China ignorieren, welche wirtschaftliche Macht und welches diplomatische Gewicht die EU als Ganzes mobilisieren kann. Noch wichtiger für die Balance zwischen den USA und China ist, ob sich EUropa globalstrategisch als Verbündeter der USA oder „neutral“ positioniert. Mindestens die Hälfte der Wählerinnen in jedem untersuchten EU-Land und 59 Prozent der Europäer insgesamt würden laut einer kürzlich von ECFR durchgeführten Umfrage die Neutralität bevorzugen, "wenn es eine Meinungsverschiedenheit zwischen den USA und China gibt". Dies wäre sowohl für die USA wie auch für China in ihrer direkten Konfrontation weit bedeutender als die neutrale Positionierung Japans im Kalten Krieg.

Die Versuchungen und strategischen Implikationen einer EU-Neutralität

Die Perspektive EUropäischer Neutralität dürfte für die Biden-Administration umso besorgniserregender sein, als sich die neutralen Versuchungen der EUropäer mit ihrer Erwartung verbinden, dass „China in zehn Jahren eine stärkere Macht sein wird als die USA“. Zwei Drittel der EUropäerinnen teilen diese Überzeugung laut der ECFR-Umfrage. Bidens Bemühen in seiner Ansprache vor dem Kongress, die Besorgnisse der Verbündeten bezüglich der Frage, „wie lange“ die USA diesmal „bleiben“, zu beruhigen, erscheinen zudem deshalb völlig gerechtfertigt, weil auch mehr als 60 Prozent der EUropäer glauben, dass das politische System der Vereinigten Staaten entweder "teilweise" oder "völlig zusammengebrochen" ist, dass „Abstiegsängste“ in der gesamten EU zunehmen und dass mehr als zwei Drittel der Befragten auch der Aussage zustimmen, dass "Europa sich nicht immer auf die USA verlassen kann“ und die EUropäer sich um ihre „eigene Verteidigungsfähigkeit kümmern“ müssen. All dies unterstreicht nicht nur die Dringlichkeit und den Gegenwind, mit dem die Biden-Administration konfrontiert ist, wenn sie die Verbündeten nicht nur auf der eigenen Seite halten wollen, sondern auch anstreben, das übergeordnete Ziel zu verwirklichen, China langfristig zu „verdrängen“ („out-compete“).

Dies könnte auch erklären, warum Merkel in Bezug auf Nord Stream 2 und einige andere sekundäre Themen, die die Experten-Debatte dominieren, ziemlich entspannt bleibt. Wie wenige andere scheint sie die neue Dynamik des Managements mehrdimensionaler Herausforderungen im neuen strategischen Rechteck zu durchschauen. Sollte es China nämlich gelingen, EUropa zu neutralisieren, könnte dies im Hinblick auf das globale strategische Gleichgewicht weit bedeutender sein, als wenn es den Sowjets mit der „Stalin-Note“ Anfang der 1950er Jahre gelungen wäre, Westdeutschland zu neutralisieren. Addiert man dann noch das verbleibende Machtpotenzial Russlands auf chinesischer Seite (und Putins Bereitschaft, dies gegen den Westen auch einzusetzen), wird die strategische Bedeutung eines erneuerten „transatlantic bargain“ offensichtlich.

Globale „Führungspartner“?

Diese Analyse entspricht nicht in Gänze jener Henry Kissingers. Doch als er kürzlich in einem anderen Interview sagte, dass "die Frage eines globalen Deutschlands aufkommt", dass "es wenig historische Präzedenzfälle für eine solche Rolle gibt", dass "Deutschland die Ressourcen und die Geschichte hat, um ein wichtiger Faktor für die Zukunft zu sein“ und dass Deutschland „sich überlegen muss, wie es seine globale Rolle wahrnimmt“, legte er zumindest indirekt auch der Biden-Administration nahe, mit seinem wichtigsten Verbündeten in Europa bedacht und strategisch klug umzugehen. Das Angebot von George Herbert Walker Bush an die Deutschen vor mehr als dreißig Jahren, „Führungspartner“ („partners in leadership“) zu werden, kam damals für die politisch Verantwortlichen viel zu früh. Ob diese Zeit jetzt gekommen ist, bleibt abzuwarten und hängt nicht nur, aber vor allem davon ab, wie sich die Biden-Administration und die neue deutsche Bundesregierung nach der Wahl im Herbst auf das neue strategische Rechteck einstellen und wie sie in seiner Geometrie navigieren. Wenn es Biden mit seiner Aussage ernst meint, „mit den Verbündeten zu führen“, müssen er und sein Team noch deutlicher dokumentieren, was Trump nie begriffen hat: Deutschland als Schurkenstaat zu behandeln, ist strategisch nicht besonders klug – vor allem für die USA selbst.

Aber das ist nur der einfachere Teil der Lehren, die auf Seiten der USA gezogen werden müssten – und die Biden-Administration hat bereits deutlich gezeigt, dass sie dies verstanden hat. Das bloße Abstellen von Dummheiten wird jedoch nicht ausreichen, um mittel- und langfristig die Ressourcen und den politischen Willen der deutschen Eliten und der deutschen Öffentlichkeit für ein „globales Deutschland“ nach Kissingers Vorstellung zu mobilisieren. Eine Bilateralisierung der „Führungspartnerschaft“ zwischen den USA und Deutschland würde auch Gefahr laufen, die Empfindlichkeiten weiterer „significant others“ in Europa zu ignorieren. Zumindest Frankreich und Großbritannien (beides Vetomächte im UN-Sicherheitsrat neben den USA, China und Russland) müssen in der einen oder andere Weise eingebunden werden – und andere EUropäer (wie etwa Polen oder Italien) zu vernachlässigen, wäre auch nicht besonders klug.

Multilaterale Kreativität 

Aus all diesen Gründen sind neue Regelungen für den globalen Multilateralismus erforderlich – und sie müssen Formen annehmen, die bislang weder im Kontext der diplomatischen Phantasie Deutschlands (etwa der „Allianz für den Multilateralismus“) noch in den diplomatischen Präferenzen der USA für multilaterale ad hoc Vereinbarungen besonders sichtbar sind. Kissingers Rat zu folgen und zumindest Absprachen über „Grundprinzipien“ für das Management des US-chinesischen Wettbewerbs zu treffen, wäre ein guter Anfang für die zentrale Achse des strategischen Rechtecks. Wenn die hier vorgelegte Analyse allerdings triftig ist, werden mittel- und langfristig auch innovative diplomatische Instrumente und institutionelle Arrangements gefordert sein, um die Kissinger‘sche „Grundstruktur der Beziehungen“ zwischen den wichtigsten Machtzentren auszugestalten – und zwar sowohl in bilateraler wie auch in multilateraler Hinsicht. In diesem Zusammenhang ist es durchaus ratsam, die neuere Geschichte zu konsultieren und die Erfahrungen früherer Wettbewerbskonstellationen zwischen den Großmächten in die Gegenwart zu übersetzen – etwa die Dualität von „Abschreckung“ und„Entspannung“ zwischen den USA und der Sowjetunion in den 1960er und 1970er Jahren oder das „Konzert der Mächte im Europa des 19. Jahrhunderts. Zusätzlich sollten aktuelle multilaterale ad hoc Arrangements wie der JCPOA-Kontext im Hinblick auf ihre Ausbau- und Anpassungsfähigkeit im Rahmen multilateraler Innovation überdacht werden. Die vier Eckpunkte des strategischen Rechtecks ​​– also USA, EUropa (hier unter Einbeziehung Großbritanniens), Russland und China – sind in diesem minilateralen Arrangement ja bereits institutionell verbunden. Auf den Lehren, die in den letzten knapp zehn Jahren im Umgang mit einem – für die regionale wie die globale Ordnung – ziemlich kniffligen Problem gemacht wurden, könnte aufgebaut werden, um passende multilaterale Instrumente und institutionelle Kontexte zu schaffen. 


Eine kürzere Version mit dem Schwerpunkt einer Bewertung der Biden-Regierung in den ersten 100 Tagen wurde in der Reihe „Aspen in a Nutshell“ veröffentlicht.


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