Die Zeit des Multilateralismus


Der geführte Diskurs um Formen multilateralen Handelns kommt nicht ohne einen zeitlichen Verweis aus. Dabei scheint die Konsequenz aus einer – vielfach rezipierten – sich verändernden Welt, Anpassung zu sein. Im Kontext der EU wird dieser Aspekt als „darwinistischer Moment“ gefasst. Damit verbundene zeitliche Aspekte – Dringlichkeit und Nachhaltigkeit, vor- und rückgreifende Anachronismen, Re- und Proaktivität sowie nicht zuletzt subjektive Wahrnehmungen und objektive Zeiterfassung – treffen aufeinander. Multilateralismus weiterdenken ist nur mit und unter zeitlicher Berücksichtigung möglich.



„Unsere Welt verändert sich in einem nie gekannten Tempo“ konstatiert Heiko Maas in seinem Vorwort zum kürzlich erschienenen Weißbuch Multilateralismus der Bundesregierung und spricht gleichzeitig von der „Überzeugung, dass Kompromiss, Ausgleich und die Orientierung am globalen Wohl auf Dauer bessere Ergebnisse für alle bringen.“ Auch Angela Merkel bringt den zeitlichen Aspekt internationaler Zusammenarbeit und des internationalen Problemlösens im Angesicht „systemischer Konkurrenz“ auf den Punkt, wenn sie ausführt, dass wir „innovativer und produktiver als andere Teile der Welt sein und in vielem auch schneller werden“ müssen. Ähnliche Gedanken äußerte Joe Biden als er während seiner ersten Rede vor dem US-Kongress betonte, dass „Autokraten denken, dass Demokratien im 21. Jahrhundert nicht mit Autokratien mithalten können, da sie zu lange brauchen, um einen Konsens zu finden.” Beim Lesen dieser aktuellen Zitate kommt man nicht umhin, zeitliche Spannungen wahrzunehmen und sich die Frage zu stellen: Was ist die Zeit des Multilateralismus? 

Der „darwinistische Moment”

Der derzeit geführte Diskurs um Formen des multilateralen Handelns kommt augenscheinlich nicht ohne Verweis auf eine zeitliche Komponente aus. Dabei scheint die Konsequenz aus einer sich verändernden Welt Anpassung zu sein. Denkt man an die Anpassung von Lebewesen an eine sich veränderte Umgebung, steht man in der Tradition von Charles Darwin (1809 - 1882). Explizit aufgegriffen wird dieser Anpassungsgedanke in einem Ideenpapier des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments (EPRS) von Elena Lazarou und in einem Artikel von Sandro Gozi, einem Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Beide sprechen von einem „darwinistischen Moment“ für Multilateralismus und EU. Eine zentrale Annahme lautet: „Multilateralismus muss zweckmäßig sein, um zu überleben” (Lazarou 2020). Spannend ist dabei, dass die AutorInnen sich ausgerechnet jetzt auf den „darwinistischen Moment“ beziehen. In Zeiten einer natürlich-biologischen Herausforderung durch die globale COVID-19 Pandemie wird die Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit in eben diesen Kontext eingebettet und dabei das „biologische” Bewusstsein für umfassende Anpassung an die neuen Gegebenheiten für das politische Feld der internationalen Politik genutzt. Kurz: Aus biologischer Anpassung wird ein Aufruf zur multilateralen Anpassung.

Herausforderungen unserer Zeit

Die Akklimatisierung an Veränderungen der Umgebung entspricht der Bewältigung von (neuen) Problemen: Anpassungsstrategien werden von der Findung oder Erfindung, Wahrnehmung und Beschreibung von Problemen (mit)bestimmt (Hellmann 2017Herborth 2017). Diese Prozesse haben immer zeitliche Dimensionen. In diesem Sinne addieren sowohl Maas, Merkel als auch Biden mit der Betonung der zeitlichen Komponente diese zu den von Daniel Jacobi angesprochenen Suchbewegungen nach Semantiken der durch eine gestiegene Komplexität in Bewegung geratenen Sozialstrukturen. 

Die zeitliche Komponente spielt gerade auch deshalb eine wichtige Rolle, da uns derzeit das Gefühl umgibt, in einer sich schnell verändernden Welt zu leben. Bedingt wird diese Wahrnehmung unter anderem durch zunehmende Vernetzung infolge der Globalisierung, neuen Technologien sowie länderübergreifenden Bedrohungen und Unsicherheiten. Gestiegene Komplexität und eine „Verkleinerung“ der Welt gehen Hand in Hand. Ein Staat ist in dieser komplexen Weltordnung nicht mehr in der Lage nur vor sich hin zu regieren – Absprachen, gemeinsame Strategien und Zusammenarbeit sind wichtiger denn je. Dieses Gefühl betrifft nicht nur die großen globalen Veränderungen, sondern beginnt im Alltag. So scheint im doppelten Sinn ein neuer Zeitgeist in die Lebens- und Alltagswelt einzukehren. Eine neue Sensibilität für Zeit und Dringlichkeit ist zu erkennen. Die Orientierung an klimatischen Kipppunkten und politischen Versprechungen einer Klimaneutralität in 10+ Jahresabschnitten werden durch zivilgesellschaftliche Initiativen kontrastiert, die wöchentlich an die Thematik erinnern. Die Pandemie hingegen ordnet den Alltag in immer kürzere Zeitabschnitte – 14-Tage Quarantäne, 7-Tage Inzidenzen, 24-Stunden Testgültigkeit. Die Digitalisierung schafft sekündliche Updates und (fordert) konstante Erreichbarkeit.

Zu beobachten ist dabei eine unausweichliche zeitliche Diskrepanz zwischen Veränderung und Anpassung. So ist ein konstantes „Hinterherhängen“ der Politik die Regel, da diese auf aufkommende Probleme meist erst mit zeitlichem Abstand reagieren kann. Deutlich zu sehen ist dies an vier großen Herausforderungen unserer Zeit – Klimakrise, COVID-19 Pandemie, wachsende sozio-ökonomische Ungleichheit und Unsicherheiten in neuen zivilen und militärischen Arenen (etwa: Cyberspace, Weltraum oder Arktis) – die ihre jeweils eigene Zeitdimension mitbringen. Skizzenhaft lässt sich sagen: Die Klimakrise ist langsam und langwierig, ähnlich verhält sich die sozio-ökonomische Ungleichheit (Stichwort: „schleichende Katastrophen”, Preuss 1994[1]). Beide gleichen sich zudem in der Tatsache, dass sie bislang aufgeschoben wurden und Politik und Gesellschaft nun unter Zugzwang stehen. Die COVID-19 Pandemie ist ein schnell aufkommendes und zumindest in ihrer derzeitigen Intensität (und im Vergleich zu den drei anderen Herausforderungen) ein eher kurzlebiges, potentiell aber ein wiederkehrendes Phänomen. Neue militärische Arenen sind schnell aufkommende Herausforderungen, die mit ihrer Erschließung neue Wettläufe einleiten und angesichts (anhaltenden) technologischen Fortschritts langlebig wirken, durch das Auftreten immer neuer Sicherheitslücken aber eine schnelle Behebung dieser erfordern. Zusätzlich zeigen sich diese Probleme im täglichen Leben als umfassend, unsicher und relativ ungreifbar, was einer intensiven und schwierigen Auseinandersetzung bedarf. Dies passt zu dem „Gestaltungsparadox” von Schimank (2011): „Komplexität schlägt Rationalität, und infolgedessen bleibt das Gestaltungsvermögen der politischen Entscheidungsträger notorisch hinter dem eigentlich gegebenen Gestaltungsbedarf zurück.” Gesucht wird nach schnellen und nachhaltigen Lösungen für drängende multilaterale Probleme. Multilaterale Lösungsfindung ist durch ihre Komplexität jedoch schwierig und langwierig.

Anpassungen und Aushandlungen

Der unaufhaltsamen Dynamik der Herausforderungen muss mit einer ständigen Weiterentwicklung begegnet werden. So tritt man den Problemen unter anderem mit Kooperation, Stärkung und Veränderung von Institutionen und Innovation sowie mit sozialen Lernprozessen entgegen (Chan 2015). Auch hier schwingt immer ein zeitlicher Aspekt mit, da alle vier genannten Beispiele Aushandlungen benötigen – das heißt Aushandlung mit anderen, mit dem Vorangegangen oder mit sich selbst. Solche Aushandlungen scheinen – wenig überraschend – nicht leicht von der Hand zu gehen. Durchdachte Strategien, die auf Überzeugungen und intensiven Beratungen beruhen, sind – so die (demokratische) Prämisse – langlebiger (als „schnelle” Lösungen), sparen also im Endeffekt künftig Zeit.

Der Fokus auf Aushandlungsprozesse offenbart allerdings auch eine systemische Komponente, wenn man den Blick auf die ihr zugrundeliegende Legitimität lenkt. Es zeigen sich entscheidende Unterschiede zwischen Demokratien und Autokratien. Neben der Konsensfindung auf der internationalen Ebene müssen Demokratien nationale, innerdemokratische Gespräche führen. Diese sind zwangsläufig durch regelmäßige Wahlen in kurze Zeitabschnitte geteilt und damit nicht auf langfristige Lösungsfindung gepolt. Diese vertikale Kommunikation kann – aufgrund unterschiedlicher Legitimitätsstrukturen – von Autokratien vergleichsweise vernachlässigt werden. Demokratien sind daher stärker mit gesellschaftlichen Veränderungen verknüpft, die von ihnen eine kontinuierliche Anpassung verlangen. Sie stehen also vor der Herausforderung einer doppelten Konsensbildung: zum einen im innerdemokratischen und zum anderen im internationalen Gespräch (Putnam 1988).

Das innerdemokratische Gespräch, die Kommunikation zwischen Regierungen und (ihren) Gesellschaften, gestaltet sich zunehmend schwierig. Zum einen verändert sich der Kommunikationsfluss: früher noch vergleichsweise strukturiert und transparent, gefiltert über Fernseh-, Zeitungs- oder Radioredaktionen, kann man nun, auch bedingt durch Soziale Medien, die Herausbildung von „Teilöffentlichkeiten“ beobachten. Informationen dringen nicht mehr zu allen Menschen durch und gerade bei emotionalen Themen ermöglichen Teilöffentlichkeiten, dass die eigene Meinung durch die jeweils spezifische Blase unhinterfragt bestätigt wird. Nicht zuletzt haben Autokratien gerade dieses innerdemokratische Gespräch als Schwachstelle identifiziert: Durch gezielte Desinformationskampagnen, gerade im Zuge von Wahlen, hat sich insbesondere Russland hervorgetan. In diesem Sinne ist auch das Zitat von Biden zu deuten: Autokraten gehen davon aus, dass das zusätzliche innerdemokratische Gespräch für die Demokratien ein entscheidender – auch zeitlicher – Nachteil sei. So laufen die Aushandlungsprozesse zwischen Demokratien und Autokratien in unterschiedlichen Zeitdimensionen ab und prägen damit die Arbeit von Internationalen Organisationen – es kommt (auch deshalb) zu Problemen bei der Konsensfindung, zu Blockaden und Verzögerungen.

Zeitdimensionen des Multilateralismus

Zwei Begrifflichkeiten – prominent im kürzlich erschienenen Weißbuch Multilateralismus vertreten – tauchen in diesem Kontext auf: „vorausschauender Multilateralismus” und „Resilienz”. Beide beziehen sich auf die Zeitdimension vor und mit dem Problem – Vorbereitung durch das frühzeitige Erkennen oder die Antizipation aufkommender Probleme sowie Widerstandskraft aufbauen und ein sich mit dem Problem weiterentwickeln. Während „Resilienz“ zunächst primär die zivilgesellschaftliche Ebene adressiert, bezieht sich ein „vorausschauender Multilateralismus“ auf die internationale Politik. Es gelte vor dem Geschehenen eine Strategie zu entwickeln, um die Reaktionsgeschwindigkeit beim Auftritt zu erhöhen. Auf der Zeitachse hieße das: In der Gegenwart „zukunftsfähig” werden. Doch kann die (internationale) Politik dies wirklich leisten? Kann sie mit drängenden Problemen im Nacken zugleich vorausschauend agieren ohne in Versuchung zu kommen, scheinbar „einfachen“ Lösungswegen zu erliegen?

Notwendigerweise muss einem solchen Multilateralismus Expertise und Wissen zugrunde liegen (Corke 2020). Dazu reicht die Analyse des Vergangenen allein nicht aus. Diese kann nur als ein erster Schritt dienen, denn die Ergebnisse müssen angepasst werden, um als Lehren für die Zukunft einzutreten. Zugleich müssen diese institutionell umgesetzt werden, damit sie nicht nur gute Ideen, sondern tatsächlich effektive Mechanismen für künftige Herausforderungen darstellen, die sobald benötigt, schnell in Gang gesetzt werden können. In anderen Worten: Man muss Anpassungsstrukturen vorbereiten, um sie im Moment der Herausforderung nicht erst zu entwerfen, sondern gleich zu implementieren. Aber auch Prävention hat ihre Zeit. Der Nutzen von Prävention ist nicht (direkt) sichtbar. Nicht alle vorbeugenden Maßnahmen können zu jedem Zeitpunkt gerechtfertigt werden (Stichwort: Präventionsparadox).

Vor- und rückgreifende Anachronismen treffen in der Gegenwart aufeinander. In diesem „Zeitdimensionschaos” bekommt Multilateralismus dann – wie im Weißbuch geschehen – die drei Adjektive „aktiv“ (Gegenwart), „effektiver“ (in Bezug auf die Vergangenheit) und „zukunftsfähig“ (perspektivischer Blick in die Zukunft) angehängt. Die Erkenntnis, mit welchen drei Eigenschaften man voranschreiten sollte, ist also bereits da, die konsequente Umsetzung, das tatsächliche Durchführen, hinkt hinterher. Offen bleibt, ob das vorgeschlagene Adjektiv „aktiv” mit der Vorsilbe „re” oder „pro” ergänzt werden müsste. Reagiert man in der Gegenwart ausschließlich reaktiv oder lässt sich Gegenwart tatsächlich proaktiv gestalten? Maas unterteilt (deutsche) Außenpolitik in (pro)aktives und reaktives Handeln. (Pro)aktive Außenpolitik entspräche mittel- und langfristigen (auf Werte und Interessen ausgelegten) Planungen und Zielen. Unmittelbare, akute Krisen und Herausforderungen bedürfen einer reaktiven Außenpolitik. 

„Darwinistisches Moment“ als hilfreiche Umschreibung?

Führt man nun all diese Überlegungen auf den „darwinistischen Moment” zurück, fehlt noch eine kritische Stellungnahme dieser Beschreibung im Kontext der bisher ausgeführten Beobachtungen. In klarer Abgrenzung zu einem darwinistischen Verständnis des „Überleben des Stärksten” als Machtpolitik ist die Beschreibung insofern hilfreich, als dass sie den Fokus auf die Notwendigkeit der Anpassung legt (Gozi 2021). Die unverkennbare Dynamik der Weltordnung mit Herausforderungen umzugehen, wird in dem Begriff der Evolution angedeutet, da er für die Veränderung von Merkmalen über Zeit steht. Sowohl biologische Evolution als auch multilaterale Anpassungen sind keinen linearen Verläufen unterlegen (Preuss 1994). Der Ablauf von Veränderung und Anpassung ist nicht vorhersehbar, vielmehr ist das Soziale „vage und unbestimmt” (Laux 2013). In diesen Punkten funktioniert die Übertragung des Konzepts auf die multilaterale Situation, da nicht mit eindeutigen Kausalitäten gearbeitet werden kann (Preuss 1994). Dieses Fehlen eindeutiger Kausalitäten macht für den Multilateralismus – wie bereits für die Evolution – eine gesicherte Vorausschau unmöglich.

Die Beschreibung als Moment erscheint für den Anpassungsprozess paradox gewählt, da „Moment” etwas Singuläres, Darwin aber etwas Prozessartiges beobachtete. Allerdings zeigt es gleichzeitig die Ambivalenz des Anpassungsgedankens auf: Im Anschluss an die einleitenden Zitate bringt es einerseits die Dringlichkeit von Anpassung – gerade jetzt als kritisch wahrgenommen – zum Ausdruck, betont andererseits die Notwendigkeit von langfristigen Lösungen. Diese Beschreibung lenkt somit die Aufmerksamkeit auf die zeitlichen Dimensionen von Prozessen und verdeutlicht als zugängliches Sinnbild das Verständnis von multilateraler Anpassung – die Abstraktheit nimmt trotz Komplexität mit der Beschreibung als „darwinistisches Moment” ab. Mit der Darstellung von Anpassung beziehungsweise Veränderung als etwas „Natürliches“ könnte außerdem der Wunsch verbunden sein, (Zukunfts-)Ängste abzubauen.

Biologische Anpassung verläuft vergleichsweise langsam – über viele Generationen hinweg – ist dafür aber „effektiv“. Multilaterale Anpassung, im übertragenen Sinne, müsste hingegen, so wird gefordert, schnell erfolgen. Gerade um große Herausforderungen zu bewältigen, muss sich permanent angepasst werden. Ergebnisse dürfen dabei nicht über Generationen auf sich warten lassen. Der Vorwurf der „Langsamkeit“ multilateraler Strukturen ähnelt somit den langwierigen biologischen Prozessen. Betrachtet man die vermeintliche „Krise des Multilateralismus“ so tritt zusätzlich der Aspekt der (fehlenden) Nachhaltigkeit in den Vordergrund. Dieser Beschreibung einer „Krise des Multilateralismus” inhärent ist der Gedanke eines „institutionellen Darwinismus” (Pempel 2010), in dem diejenigen Institutionen „überleben“, die sich am geschicktesten an die Veränderungen ihrer Umgebung anpassen können. Doch das Konzept vermag die bestehenden und sich verändernden Machtverhältnisse nicht fassen, die dazu beitragen, dass etwa der UN-Sicherheitsrat, der an die heutige weltpolitische Ordnung alles andere als angepasst wirkt, (noch) zu überleben scheint. 

Anpassung ist zwischen „sich aktiv anpassen” und „passiv angepasst werden” zu unterscheiden. In der Biologie nach Darwin werden Organismen passiv durch natürliche Selektion angepasst. Politische Institutionen hingegen unterliegen der Notwendigkeit des bewussten Handelns – das heißt: aktive Anpassung. Eine in der Biologie widerlegte Theorie – Lamarck´s Theorie einer aktiven Anpassung der Lebewesen an ihre äußere Umwelt (Gilday, Hoffmann 2013) – scheint im politischen Feld besser zu funktionieren. Geschickter – aber nicht ganz so bekannt wie die Theorie von Darwin und somit sicherlich weniger wirkmächtig und anschaulich – wäre es deshalb, in den Internationalen Beziehungen statt von einem „darwinistischen Moment” von einem „lamarck’schen Moment” zu sprechen. In Lamarck’s „aktiver Anpassung” ließen sich Re- und Proaktivität vereinen, da sie sowohl eine Reaktion auf die Umwelt und das erfahrbare Selbst als auch das proaktive Prägen der eigenen Zukunft umfasst. Durch die Gleichzeitigkeit im Handeln kann demnach nicht zwischen re- und proaktiv unterschieden werden (entgegen der oben beschriebenen Einordnung von Maas), was eine unausweichliche Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzeigt.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die „Zeit des Multilateralismus” multidimensional ist. Sie umfasst Dynamik, Kontext und Aktualität des Multilateralismus und ermöglicht damit eine Auseinandersetzung in und mit verschiedenen Dimensionen. Zusätzlich begreifen wir Zeit als objektive Zeiterfassung und subjektives Zeitgefühl und -wahrnehmung, die Dringlichkeiten und Handlungsbedarf (mit)bestimmen. Dies passt zu der Argumentation von Reckwitz, dass es die Zeit nicht gibt, sondern nur „Zeitlichkeiten”. Ob als Moment, Abschnitt, Periode, Prozess, Zeitstrahl – unsere Welt ist in „Zeitlichkeiten” strukturiert. Multilateralismus weiterdenken ist damit perspektivisch und nur mit und unter zeitlicher Berücksichtigung möglich.


[1] Ulrich K. Preuß: Risikovorsorge als Staatsaufgabe. Die epistemologischen Voraussetzungen von Sicherheit, in: Dieter Grimm: Staatsaufgaben (unter Mitarb. v. Evelyn Hagenah), Baden-Baden 1994, S. 523–551

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